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Anomalie nach fünf Olympiasiegen

Nach den Dopingaffären um Radprofi Jan Ullrich und um Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth könnte sich der Dopingfall Claudia Pechstein zum Super-GAU des deutschen Sports ausweiten. Ist Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin aller Zeiten eine Blutdoperin? Mit Bestimmtheit lässt sich die Frage noch nicht beantworten. Es fehlen zu viele Informationen.

Von Jens Weinreich | 04.07.2009
    Wer versucht, die Angaben des Eislauf-Weltverbandes (ISU), die Darstellungen Pechsteins, ihrer Anwälte und deutscher Sportfunktionäre zu werten und dabei Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Dopingbekämpfung einbezieht, kann sagen: Es spricht einiges dafür, dass Blutdoping betrieben wurde. Pechsteins verblüffende sportliche Entwicklung im vergangenen Winter, der überraschende Leistungssprung im hohen Alter von 37 Jahren, korrespondiert mit den Indizien.

    Die ISU hat den Fall mehr als vier Monate intern behandelt. Pechstein und die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) haben ihre Argumente vorgebracht, Sachverständige wurden hinzu gezogen, Ende Juni fand in Bern eine zweitägige Anhörung statt. Dieser langwierige Prozess scheint vergleichsweise vorbildlich gewesen zu sein. Das Analyseergebnis wurde nicht vorab öffentlich, was im Interesse der Beschuldigten ist. Pechstein spricht allerdings von einer "öffentlichen Hinrichtung" und bleibt Beweise für ihre These schuldig.

    Es gibt keinen positiven Dopingbefund. Daraus aber abzuleiten, es gebe auch keinen Dopingfall, ist unzulässig. Diese Argumentation ist von vorgestern. Positive Befunde braucht es längst nicht mehr. Prominentestes Beispiel ist die amerikanische Leichtathletin Marion Jones. Allerdings, das ist der Unterschied, hat Jones in der Hoffnung, eine Gefängnisstrafe wegen Meineids zu vermeiden - die sie dann doch absitzen musste -, ihre Dopingvergehen gestanden.

    Im Hochleistungssport gibt es keine Wunder. Blutdoping, ob mit Eigenblut oder Hormonen der Epo-Familie, steigert die Leistung exorbitant. Dass allerdings eine genetische Anomalie die auffälligen Blutwerte Pechsteins erklären könnte, ist eher unwahrscheinlich. Es gab schon viele abenteuerliche Rechtfertigungen, die sich als Lügen entpuppten. Eine Anomalie hätte früher auffallen müssen, nicht erst am Ende einer Karriere, die von fünf Olympiasiegen gekrönt wurde.

    Pechstein und Berater, ihr Management und ihre Anwälte von der Berliner Kanzlei Scherz Bergmann, wählen die Blut-und-Tränen-Strategie. Pechstein gibt pausenlos Interviews und tritt im Fernsehen auf. Es wird nicht leichter werden, hinter dem Schleier der Tränen nach Fakten zu suchen.

    Es werden gezielt Emotionen geschürt. Emotionen aber schaffen keine Aufklärung. Dabei wäre ein simples Mittel hilfreich, und das heißt: Transparenz. Transparenz auf allen Seiten.

    Etwa die Veröffentlichung des Blutprofils von Claudia Pechstein.
    Etwa die Veröffentlichung der Details aller Testergebnisse ihrer Karriere.
    Etwa die Veröffentlichung des Schriftwechsels, der Gutachten und des Anhörungsprotokolls vor der ISU.

    Es gibt viele weitere offene Fragen. Die meisten Informationen legt derzeit die ISU auf den Tisch, auch wenn das noch zu wenig ist.

    Armin Baumert, Vorstand der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada), der Pechstein seit zwei Jahrzehnten kennt, sagt: "Es darf kein Mitleid geben. Das ist ein Fall für die Juristen. Gefühle müssen hintenan stehen." Auf der Nada-Jahrespressekonferenz Anfang Mai hatte Baumert gesagt: "Wir müssten mal einen richtigen Volltreffer landen." Nada-Geschäftsführer Göttrik Wewer sprach über Indizienprozesse als Mittel der modernen, effektiven Dopingbekämpfung, wie von der Welt-Agentur Wada gefordert, wie von den Weltverbänden im Radsport, Skilauf und Eislauf angedacht. Die ISU geht mit dem so genannten indirekten Nachweis nun erstmals aufs Ganze. Es ist ein Präzedenzfall. Die Nada, das nur am Rande, war von Beginn an über das Verfahren informiert.

    Claudia Pechstein hat drei Wochen Zeit, den Welt-Sportgerichtshof (CAS) anzurufen. Vor dem CAS war kürzlich der russische Radprofi Wladimir Gussew erfolgreich. Der CAS urteilte, Gussew sei im Juli 2008 nach Auffälligkeiten im Blutprofil vom Team Astana zu Unrecht entlassen worden. Das schriftliche Urteil ist noch nicht öffentlich.

    Der Fall Pechstein wird in Deutschland zum Politikum. Es geht um die erfolgreichste deutsche Teilnehmerin in der Geschichte Olympischer Winterspiele, Fahnenträgerin bei der Abschlussfeier der Winterspiele 2006 in Turin, mit Steuermitteln alimentierte Polizeihauptmeisterin der Bundespolizei. Es geht um Dichtung und Wahrheit und die Verquickung von Interessen. Ganz anders als die Äußerungen von Nada-Vertretern klingen die Erklärungen der DESG und des Dachverbandes DOSB. Insbesondere die DESG, geführt vom Berliner Funktionär Gerd Heinze, hält in Nibelungentreue zu Pechstein und verstrickt sich in Widersprüche.

    Dabei ist Heinze selbst in der Pflicht, für Transparenz zu sorgen und nicht länger Nebelkerzen zu zünden. Der Verband muss alle Dokumente öffentlich machen, muss erklären, mit welchen Trainern und Ärzten Pechstein wann zusammen gearbeitet hat. Heinze hat zudem klarzustellen, warum er wider besseres Wissen eine Kampagne gegen die ehemalige niederländische Eisschnellläuferin und heutige TV-Moderatorin Ria Visser geführt hat. Visser hatte Ende März erklärt, dass es Doping-Gerüchte ums deutsche Team gebe.

    Sie hat also nichts weiter gesagt als: die Wahrheit. So viel lässt sich seit Freitag mit Bestimmtheit sagen.