
Kann es nach 20 Jahren überhaupt noch einen neuen Blickwinkel auf die Revolution von 1989 geben?
Für viele ist der friedliche Aufstand des Volkes längst Geschichte geworden, was eine ganze Flut zeitgeschichtlicher Werke über die Wende verrät. Joachim Jauer wählt einen anderen Weg: Der ehemalige DDR und Osteuropa-Korrespondent des ZDFs hat sich für die Rolle des Chronisten entschieden. Detailgenau und in szenenartigen Rückblenden schildert er in seinem Buch "Urbi et Gorbi" die Stationen der Revolution: von den Friedensgebeten in der DDR bis zum Flüchtlingslager in der Prager Botschaft.
Dabei skizziert er die entscheidenden Umwälzungen im Osten bis zum Falle der Mauer. "Christen als Wegbereiter der Wende" heißt es im Untertitel. Es ist ein zutiefst politisches Buch, das Joachim Jauer vorgelegt hat. Und ein persönliches zumal, das in der grauen Tristesse im Osten Berlins beginnt.
"Bei den "Offiziellen" war ich der Klassenfeind. Bei den Menschen auf der Straße gab es sehr häufig wirklich sehr ergreifende Sympathiekundgebungen. Die Leute kannten den Fernseh-Korrespondenten, der nahezu täglich auf dem Bildschirm in der Heute-Sendung erschien. Nach einem Dokumentarfilm, den ich gemacht hatte über die SED am übernächsten Morgen, fand ich vor meiner Tür im Winter einen Blumenstrauß. Und das war unglaublich, wenn man bedenkt, wie schwierig es war in Winterszeiten in der DDR einen Blumenstrauß zu organisieren."
Joachim Jauer war der erste Fernsehreporter in der DDR aus Westdeutschland. Von 1978 bis 1982 war er dort durchgehend für das ZDF stationiert.
"Ich habe in der Leipziger Straße gewohnt, wie ich heute weiß sehr stark beobachtet von der Staatssicherheit. Abgehört möglicherweise auch gefilmt. In die Wohnung ist eingebrochen worden. Das hat dazu geführt, dass ich immer einen Aktenkoffer mit mir herumgeschleppt habe auch nach Westberlin - den habe ich nicht in der Wohnung gelassen, etwa der, mit dem ich die Briefe von Menschen in den Westen transportiert habe, die über mich Ausreiseanträge in den Westen befördert haben wollten."
Seine persönlichen Erlebnisse lässt Joachim Jauer immer wieder sparsam dosiert mit einfließen, was angesichts seines reichen Anekdotenschatzes durchaus schade ist.
"Der Hausmeister war auf mich angesetzt, der passte auf, dass wir keinerlei Zeitungen, Zeitschriften aus dem Westen hinterließen. Diese Zeitungen oder Zeitschriften mussten in einem Extra-Kasten nach seinem Wunsch entsorgt werden. Er hat damit, wie wir später erfahren haben, einen schwunghaften Handel getrieben."
Anschaulich, kritisch, doch ohne Häme beschreibt Joachim Jauer die schleichenden politischen und sozialen Veränderungen in Ostdeutschland, die schließlich zum Verfall des Regimes beigetragen haben. Ausgehend von den friedlichen Demonstrationen in Leipzig, Dresden oder Berlin, überträgt er seine Hauptthese auf alle Träger der osteuropäischen Revolution: dass es vor allem die Christen waren, die zu den "Wegbereitern der Wende" wurden.
Glaubt man seinen Worten, war es weitaus mehr als eine geschichtliche Glücksstunde, dass im Schicksalsjahr 1989 die unterschiedlichsten Menschen zur gleichen Zeit in Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn unter der Duldung Gorbatschows eine geradezu revolutionäre Wirkung entfalten konnten.
Nicht nur, aber auch, weil sie auf einen christlichen und demokratischen Wertekanon zurückgriffen. Und sich konsequent jeder Gewalt versagten. So schildert der Journalist überzeugend und aus eigener Anschauung, wie die evangelische Kirche in der DDR zum Freiraum für Andersdenkende wurde. Und damit zur entscheidenden Keimzelle der Revolution.
Die moralische Hauptfigur spielte indes laut Jauer Karol Wojtyla:
"Bei seiner Amtseinführung hatte Johannes Paul II. ausgerufen: Habt keine Angst, öffnet, reißt die Tore auf für Christus. Öffnet die Grenzen, die Staaten und die wirtschaftlichen und die Systeme für seine rettende Macht. Die Sprengkraft der Freiheitsbotschaft des Papstes, die den Widerstand der ganz überwiegend kirchentreuen polnischen Katholiken angeleitet hat, haben wohl alle im Osten und Westen damals unterschätzt."
Unterschätzt? Vielleicht. Tatsächlich hat der Papst die Menschen zwar zum Abschied vom Kommunismus aufgerufen, zugelassen aber hat es der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow. Und zwar wohl weniger aus Angst vor der moralischen Kraft der Kirchen, sondern aus politischer Überzeugung und purer ökonomischer Not. Mit Glasnost und Perestroika erschuf er erst die Bedingungen für eine unblutige Revolution. Und dennoch: Die Leistung des polnischen Papstes sieht Jauer vor allem in seiner unschätzbaren Integrationskraft, die dem Menschen Mut machte:
"Der Papst hat gegen das System der Angst, das die Diktatur verbreitet, eine Ermutigung gesetzt. Er verlegte Rom symbolisch nach Krakau. Und alle die, die den Eisernen Vorhang nicht überschreiten durften und nicht nach Rom durften, konnten nach Krakau fahren."
Aus heutiger Sicht drängt sich der Eindruck auf, dass die damaligen Machthaber Honecker, Husák oder Ceaucescu für die politischen Veränderungen im Ostblock geradezu blind gewesen sind. Den prophetischen Appell Karol Wojtylas hatten sie jedenfalls nicht ernst genommen. Für Joachim Jauer der Anfang vom Ende ihrer Herrschaft. Im fast zeitgleichen Auftreten Michail Gorbatschows und Karol Wojtylas auf der politischen Bühne sieht er den Schlüssel für die friedliche Revolution.
Auf rund 330 Seiten liefert Joachim Jauer - im flotten Erzählstil eines Fernsehreporters - ein akribisches Protokoll jener Zeitenwende in Osteuropa. Mit einer klaren Position- vor allem im Hinblick auf die untergegangene DDR, der er keine Träne nachweint.
"Sie war menschenfeindlich, weil die SED den Anspruch erhob, alles über die Menschen, die ihrer Herrschaft unterworfen waren, zu bestimmen."
Joachim Jauer hat sein Buch aus der Perspektive eines Zeitzeugen geschrieben, der bei den wichtigsten Wendepunkten dabei war. So auch in der deutschen Botschaft in Prag, in der Tausende von DDR-Flüchtlinge auf ihre Ausreisegenehmigung hofften. Die sich unter den erlösenden Worten des deutschen Außenministers Genscher in einem Freudentaumel entluden. Es waren die Bilder einer verzweifelten Massenflucht, die Jauer filmte und die vom nahen Untergang der DDR kündeten. Bilder, die in die DDR ausgestrahlt wurden und die anschließend um die Welt gingen. Die das Ende des Eisernen Vorhangs einläuteten.
Es sind Ereignisse wie diese, die sein Buch wohltuend von den vielen anderen Werken zum gleichen Thema unterscheiden. In "Urbi et Gorbi" wird die Geschichte wieder lebendig, weil Jauer im Gegensatz zum analytischen Diskurs vieler Autoren, auf "live" erlebte Berichte zurückgreifen kann. Sehr zum Wohle einer anregenden Lektüre.
Alicia Rust war das über Joachim Jauer: Urbi et Gorbi - Christen als Wegbereiter der Wende. Verlegt bei Herder, 352 Seiten kosten 19 Euro 95.
Für viele ist der friedliche Aufstand des Volkes längst Geschichte geworden, was eine ganze Flut zeitgeschichtlicher Werke über die Wende verrät. Joachim Jauer wählt einen anderen Weg: Der ehemalige DDR und Osteuropa-Korrespondent des ZDFs hat sich für die Rolle des Chronisten entschieden. Detailgenau und in szenenartigen Rückblenden schildert er in seinem Buch "Urbi et Gorbi" die Stationen der Revolution: von den Friedensgebeten in der DDR bis zum Flüchtlingslager in der Prager Botschaft.
Dabei skizziert er die entscheidenden Umwälzungen im Osten bis zum Falle der Mauer. "Christen als Wegbereiter der Wende" heißt es im Untertitel. Es ist ein zutiefst politisches Buch, das Joachim Jauer vorgelegt hat. Und ein persönliches zumal, das in der grauen Tristesse im Osten Berlins beginnt.
"Bei den "Offiziellen" war ich der Klassenfeind. Bei den Menschen auf der Straße gab es sehr häufig wirklich sehr ergreifende Sympathiekundgebungen. Die Leute kannten den Fernseh-Korrespondenten, der nahezu täglich auf dem Bildschirm in der Heute-Sendung erschien. Nach einem Dokumentarfilm, den ich gemacht hatte über die SED am übernächsten Morgen, fand ich vor meiner Tür im Winter einen Blumenstrauß. Und das war unglaublich, wenn man bedenkt, wie schwierig es war in Winterszeiten in der DDR einen Blumenstrauß zu organisieren."
Joachim Jauer war der erste Fernsehreporter in der DDR aus Westdeutschland. Von 1978 bis 1982 war er dort durchgehend für das ZDF stationiert.
"Ich habe in der Leipziger Straße gewohnt, wie ich heute weiß sehr stark beobachtet von der Staatssicherheit. Abgehört möglicherweise auch gefilmt. In die Wohnung ist eingebrochen worden. Das hat dazu geführt, dass ich immer einen Aktenkoffer mit mir herumgeschleppt habe auch nach Westberlin - den habe ich nicht in der Wohnung gelassen, etwa der, mit dem ich die Briefe von Menschen in den Westen transportiert habe, die über mich Ausreiseanträge in den Westen befördert haben wollten."
Seine persönlichen Erlebnisse lässt Joachim Jauer immer wieder sparsam dosiert mit einfließen, was angesichts seines reichen Anekdotenschatzes durchaus schade ist.
"Der Hausmeister war auf mich angesetzt, der passte auf, dass wir keinerlei Zeitungen, Zeitschriften aus dem Westen hinterließen. Diese Zeitungen oder Zeitschriften mussten in einem Extra-Kasten nach seinem Wunsch entsorgt werden. Er hat damit, wie wir später erfahren haben, einen schwunghaften Handel getrieben."
Anschaulich, kritisch, doch ohne Häme beschreibt Joachim Jauer die schleichenden politischen und sozialen Veränderungen in Ostdeutschland, die schließlich zum Verfall des Regimes beigetragen haben. Ausgehend von den friedlichen Demonstrationen in Leipzig, Dresden oder Berlin, überträgt er seine Hauptthese auf alle Träger der osteuropäischen Revolution: dass es vor allem die Christen waren, die zu den "Wegbereitern der Wende" wurden.
Glaubt man seinen Worten, war es weitaus mehr als eine geschichtliche Glücksstunde, dass im Schicksalsjahr 1989 die unterschiedlichsten Menschen zur gleichen Zeit in Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn unter der Duldung Gorbatschows eine geradezu revolutionäre Wirkung entfalten konnten.
Nicht nur, aber auch, weil sie auf einen christlichen und demokratischen Wertekanon zurückgriffen. Und sich konsequent jeder Gewalt versagten. So schildert der Journalist überzeugend und aus eigener Anschauung, wie die evangelische Kirche in der DDR zum Freiraum für Andersdenkende wurde. Und damit zur entscheidenden Keimzelle der Revolution.
Die moralische Hauptfigur spielte indes laut Jauer Karol Wojtyla:
"Bei seiner Amtseinführung hatte Johannes Paul II. ausgerufen: Habt keine Angst, öffnet, reißt die Tore auf für Christus. Öffnet die Grenzen, die Staaten und die wirtschaftlichen und die Systeme für seine rettende Macht. Die Sprengkraft der Freiheitsbotschaft des Papstes, die den Widerstand der ganz überwiegend kirchentreuen polnischen Katholiken angeleitet hat, haben wohl alle im Osten und Westen damals unterschätzt."
Unterschätzt? Vielleicht. Tatsächlich hat der Papst die Menschen zwar zum Abschied vom Kommunismus aufgerufen, zugelassen aber hat es der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow. Und zwar wohl weniger aus Angst vor der moralischen Kraft der Kirchen, sondern aus politischer Überzeugung und purer ökonomischer Not. Mit Glasnost und Perestroika erschuf er erst die Bedingungen für eine unblutige Revolution. Und dennoch: Die Leistung des polnischen Papstes sieht Jauer vor allem in seiner unschätzbaren Integrationskraft, die dem Menschen Mut machte:
"Der Papst hat gegen das System der Angst, das die Diktatur verbreitet, eine Ermutigung gesetzt. Er verlegte Rom symbolisch nach Krakau. Und alle die, die den Eisernen Vorhang nicht überschreiten durften und nicht nach Rom durften, konnten nach Krakau fahren."
Aus heutiger Sicht drängt sich der Eindruck auf, dass die damaligen Machthaber Honecker, Husák oder Ceaucescu für die politischen Veränderungen im Ostblock geradezu blind gewesen sind. Den prophetischen Appell Karol Wojtylas hatten sie jedenfalls nicht ernst genommen. Für Joachim Jauer der Anfang vom Ende ihrer Herrschaft. Im fast zeitgleichen Auftreten Michail Gorbatschows und Karol Wojtylas auf der politischen Bühne sieht er den Schlüssel für die friedliche Revolution.
Auf rund 330 Seiten liefert Joachim Jauer - im flotten Erzählstil eines Fernsehreporters - ein akribisches Protokoll jener Zeitenwende in Osteuropa. Mit einer klaren Position- vor allem im Hinblick auf die untergegangene DDR, der er keine Träne nachweint.
"Sie war menschenfeindlich, weil die SED den Anspruch erhob, alles über die Menschen, die ihrer Herrschaft unterworfen waren, zu bestimmen."
Joachim Jauer hat sein Buch aus der Perspektive eines Zeitzeugen geschrieben, der bei den wichtigsten Wendepunkten dabei war. So auch in der deutschen Botschaft in Prag, in der Tausende von DDR-Flüchtlinge auf ihre Ausreisegenehmigung hofften. Die sich unter den erlösenden Worten des deutschen Außenministers Genscher in einem Freudentaumel entluden. Es waren die Bilder einer verzweifelten Massenflucht, die Jauer filmte und die vom nahen Untergang der DDR kündeten. Bilder, die in die DDR ausgestrahlt wurden und die anschließend um die Welt gingen. Die das Ende des Eisernen Vorhangs einläuteten.
Es sind Ereignisse wie diese, die sein Buch wohltuend von den vielen anderen Werken zum gleichen Thema unterscheiden. In "Urbi et Gorbi" wird die Geschichte wieder lebendig, weil Jauer im Gegensatz zum analytischen Diskurs vieler Autoren, auf "live" erlebte Berichte zurückgreifen kann. Sehr zum Wohle einer anregenden Lektüre.
Alicia Rust war das über Joachim Jauer: Urbi et Gorbi - Christen als Wegbereiter der Wende. Verlegt bei Herder, 352 Seiten kosten 19 Euro 95.