Freitag, 29. März 2024

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Anschaulichkeit und Nachfühlbarkeit

Zwölf Jahre lang dauerte die Naziherrschaft, über zwölf Jahre erstreckte sich auch der Publikationszeitraum des Echolot-Projekts. Beginnend mit einer vierbändigen Kassette 1993, fünfzig Jahre nach Stalingrad, gefolgt von weiteren vier Bänden über den Anfang des letzten Kriegsjahres, ergänzt durch ein einbändiges Intermezzo zum Russlandfeldzug, liegen nun die Bände neun und zehn vor. Kempowskis Projekt wurde allerdings von Anfang an als Literatur gewertet, nicht als Geschichtsschreibung.

Von Florian Felix Weyh | 27.03.2005
    "Nach der ungeheuren Erregung der ersten Tage macht sich jetzt die Reaktion bemerkbar. Ich fühle mich an Körper und Seele wie zerbrochen, jedes Glied wie zerschlagen und im Kopf eine dumpfe Leere. Ich starre die blühenden Bäume im Garten an, sie sind irgendwie unwirklich. Kann die Natur denn weiter blühen und wachsen und sich in ihr schönstes Frühlingsgewand kleiden, wenn ringsum die Bestie Mensch allem Hohn spricht, was Gott geschaffen hat?! Was ist der Sinn von alledem? Irgendeinen Sinn muss es doch haben! Aber ich finde ihn nicht – alle Menschen sind lebensüberdrüssig, man neidet den Toten ihre Ruhe. Würde irgendwo Gift verteilt, in Haufen würden die Menschen herbeiströmen und sich darum schlagen! [Bankdirektor Dr. Schmidt, Berlin-Lichterfelde] "

    Sie schlagen sich, allerdings nicht um Gift, sondern um Lebensmittel, in dieser letzten Aprilwoche des Jahres 1945 in Dresden, Hamburg, Breslau, Berlin –überall in Deutschland

    "Als ich vom Wasserholen zurück war, schickte mich die Witwe auf Kundschaft zur Fleischschlange. Dort großes Geschimpfe. Es scheint, dass immer wieder die Zulieferung von Wurst und Fleisch stockt. Dies ärgert die Frauen im Augenblick mehr als der ganze Krieg. Das ist unsere Stärke. Immer haben wir Frauen das Nächstliegende im Kopf. Immer sind wir froh, wenn wir vom Grübeln über Künftiges ins Gegenwärtige flüchten dürfen. Die Wurst steht zur Zeit im Vordergrund dieser Hirne und verstellt ihnen perspektivisch die großen, doch fernen Dinge. [Eine Frau, Berlin]"

    Der Krieg ist verloren, doch wütet er in unverminderter Härte weiter, löscht Menschenleben um Menschenleben aus, ziellos und ohne jeden Plan, denn diejenigen, die ihn 1939 anfachten, haben längst alle Kontrolle verloren. Selbst die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 lässt sich vom deutschen Führungsstab nicht mehr hundertprozentig für alle Truppenteile aussprechen; das militärische Kommunikationsnetz ist kollabiert. Auch nach der eingeräumten Karenzzeit von 12 Stunden – im Zeitalter des Funkspruchs eine reichlich bemessene Frist – gibt es Truppenteile, die vom Kriegsende nichts wissen. Wie auch? In diesen Frühjahrstagen des Jahres 1945 bricht endgültig die Zivilisation zusammen. Es herrscht das Gesetz des Augenblicks, das Primat lokaler Machtverhältnisse, die sich von Ort zu Ort markant unterscheiden. Ist im Westen des Landes längst Friedensruhe eingekehrt, quälen sich im Osten noch Kolonnen von KZ-Häftlingen auf Todesmärschen voran – ohne dass ihre erzwungene Bewegung irgendeiner Ratio folgen würde. Befreite Sklavenarbeiter aus Polen, Russland, Litauen, der Ukraine drängen hingegen den sowjetischen Befreiern entgegen oder ziehen desorientiert im Lande umher. Die zusammenbrechende Front verläuft zangenförmig, im Zickzack oder – wie man heute sagen würde – nach fraktalen Mustern, die keine übergeordnete Struktur mehr erkennen lassen, zugleich aber Massen von flüchtenden Soldaten und Zivilisten vor sich her treiben. Chaos pur, ein Malstrom der Geschichte; darin jedoch verblüffende Momente des Stillstands, als gäbe es noch Kontinuitäten über den Punkt der Auflösung von Staat und Gesellschaft hinweg:

    "Wir kletterten wieder in die Stabsfahrzeuge und fuhren zurück zu Feldmarschall Keitels Büro im OKW. Das erwies sich als schlichter Raum, der auf den Haupteingang hinausblickte, von wo wir Keitel zum ersten Mal gesehen hatten. Büroangestellte eilten geschäftig hin und her, was in diesem kleinen Vorzimmer, von dem aus wir zu Keitel vorgelassen wurden, wie ein undiszipliniertes und würdeloses Durcheinander wirkte. Wir mussten uns langsam zwischen einem Aktenschrank und einer zerzausten Schreibkraft hindurchzwängen, deren Haare über ihre Schreibmaschine fielen und die ein Ausbildungsprogramm für die Deutsche Wehrmacht für das Jahr 1947 in die Maschine klapperte. Ausbildung für was? Den nächsten Krieg? Und welche Deutsche Wehrmacht? [Der britische Sergeant Norman Kirby, Flensburg] "

    Im äußersten Norden des Landes, wohin sich das Oberkommando der Wehrmacht abgesetzt hat, beobachtet der britische Sergeant Norman Kirby diese absurde Szene, und Walter Kempowski montiert sie in bewährter Manier zwischen die Stimmen apokalyptischer Verzweiflung. Sein historisches Schichtmodell der Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem – oder uns heute unvereinbar Vorkommendem – widerspricht auch in diesem letzten Band des Echolot-Projekts dem Drang akademischer Geschichtsschreibung, Linien zu ziehen, wo nur unverbundene Punkte existieren. Bei Kempowski ist alles punktuell, weil sich im dokumentierten Zeitraum vom 20. April bis 9. Mai 1945 beim besten Willen kein einheitliches Muster mehr erkennen lässt. Am 20. April – man glaubt es kaum! – fliegt noch eine schwedische Delegation per Linienmaschine von Stockholm nach Berlin, um mit Heinrich Himmler über die Freigabe von Juden zu verhandeln; einem Mann, der sich alsbald gen Westen absetzt, wo er in völliger Verkennung der Lage mit den Amerikanern verhandeln will. Sein Spießgeselle Goebbels verbreitet derweil im Rundfunk eine letzte Lügensuada, der – Ironie der Geschichte – beinahe prophetische Qualität zukommt, liest man sie als Beschreibung der westlichen Siegerpolitik, als die sie natürlich nicht gedacht ist:

    "Deutschland wird nach diesem Kriege in wenigen Jahren aufblühen wie nie zuvor. Seine zerstörten Landschaften und Provinzen werden mit neuen, schöneren Städten und Dörfern bebaut werden, in denen glückliche Menschen wohnen. Ganz Europa wird an diesem Aufschwung teilnehmen. Wir werden wieder Freund sein mit allen Völkern, die guten Willens sind, werden mit ihnen zusammen die schweren Wunden, die das edle Antlitz unseres Kontinents entstellen, zum Vernarben bringen. Auf reichen Getreidefeldern wird das tägliche Brot wachsen, das den Hunger der Millionen stillt, die heute darben und leiden. Es wird Arbeit in Hülle und Fülle geben, und aus ihr wird als der tiefsten Quelle menschlichen Glücks Segen und Kraft für alle entspringen. Das Chaos wird gebändigt werden! Nicht die Unterwelt wird diesen Erdteil beherrschen, sondern Ordnung, Frieden und Wohlstand. [Joseph Goebbels] "

    Zwölf Jahre lang dauerte die Naziherrschaft, über zwölf Jahre erstreckte sich auch der Publikationszeitraum des Echolot-Projekts. Beginnend mit einer vierbändigen Kassette 1993, fünfzig Jahre nach Stalingrad, gefolgt von weiteren vier Bänden über den Anfang des letzten Kriegsjahres, ergänzt durch ein einbändiges Intermezzo zum Russlandfeldzug, liegen nun die Bände neun und zehn vor. Band zehn freilich ist kein Echolot, sondern – um im Bild zu bleiben – das technische Handbuch dazu. Es trägt den Titel »Culpa« (Schuld) und dokumentiert die Entstehungsgeschichte dieses einzigartigen historisch-literarischen Projekts vom frühsten Gedankenkeim 1978 bis zum Erscheinungstermin der ersten Bände im Herbst 93. Eine faszinierende Begleitschrift über eine persönliche Obsession, die zunächst mit dem Sammeln unveröffentlichter Autobiographien beginnt, sich dann zum historischen Kalenderprojekt fortentwickelt, das nach anfänglichem Verlegerinteresse scheitert, und schließlich ins »Echolot« mündet. Noch vor dessen erster Erwähnung kommentiert Kempowski 1987 seine Obsession beinahe zynisch:

    "Vielleicht ist diese Sammelei von Schicksalen mit dem Verwalten eines Zuchthauses zu vergleichen, oder mit einem Zoo. "

    Doch genau dies – die pure Versammlung, Verwahrung, Katalogisierung –
    überwindet Walter Kempowski dann im Echolot-Projekt, das ihm ermöglicht, all den toten Stimmen einen Resonanzraum zu geben und sie nicht nur in Archivgrüften bestatten zu müssen. Das ursprünglich geplanter Echolot sollte noch ganz aus diesem Bergwerk unveröffentlichter Tagebücher schöpfen; »Bergwerk« hieß später auch verlagsintern das ganze Projekt, an das niemand so recht glaubte, bevor es sich zu einem glänzenden Geschäft auswuchs. Erst in einem späteren Kompositionsstadium kamen historische Originaldokumente und die Stimmen bekannter Zeitgenossen hinzu, was sich freilich auf den Umfang des Werkes auswirkte. Kempowski dazu in »Culpa«:

    "Jede Unternehmung hat ihr Maß – das «Echolot» war in Kurzform nicht zu haben: «Die Amerikaner bombardierten Köln», mit einem solchen Satz kann ich nichts anfangen. Wenn wir jedoch lesen, dass ein (einbeiniger) Mann, der in unserem «Echolot» vorkommt« buchstäblich jeden Tag fünf- bis sechsmal zum Bunker gerannt, ja «gehüpft» ist, dann gewinnt das, was wir «Luftterror» haben nennen hören, eine geradezu fleischliche Übertragungsqualität. "

    Damit macht er kenntlich, worum es ihm geht: Nicht um historische, auf wissenschaftlichen Übereinkünfte vertrauende Objektivität, sondern um Anschaulichkeit und Nachfühlbarkeit; darum, fremde und uns weit entrückte Lebenslagen begreifbar zu machen – auch wenn sie ideologisch anrüchig erscheinen. So jedenfalls lässt sich die Eintragung vom Februar 1987 verstehen:

    "In den Biographien werden Fakten, Gesinnungen, Gefühle überliefert, die heute absolut indiskutabel sind. Hier ist ein Tabu wirksam geworden, das uns die Linke verordnet hat. "

    Zu Recht ist dieses Projekt von Anfang an als Literatur gewertet worden, nicht als Geschichtsschreibung, und wenn einem als Leser – wie dem Rezensenten vor einigen Minuten – immer wieder der Satz entfährt »Man glaubt es kaum!«, bleibt man über alle neun Echolot-Bände hinweg mit seinen Zweifeln alleine gelassen. Die vorrangig subjektiven Texte arbeiten notgedrungen mit verzerrter Optik und überliefern auch manches falsche Detail. Doch darauf kommt es nicht an, denn wenn man eine Zeitmaschine benutzt, landet man mitten im Geschehen und nicht irgendwo auf dem Feldherrenhügel, von dem aus sich alles trefflich sichten und bewerten lässt. Der reale Feldherrenhügel mit seiner Rundum-Perspektive existiert in diesen Apriltagen 1945 ja auch nicht mehr, sondern hat sich in ein unterirdisches Gelass mit null Sichtkontakt zu den äußeren Verhältnissen verwandelt:

    "
    Funkspruch an Alfred Jodl
    1. Wo Spitze Wenck?
    2. Wann tritt er an?
    3. Wo 9. Armee?
    4. Wo Gruppe Holste?
    5. Wann tritt er an? gez. Adolf Hitler "

    So gerne man den Schlussband »Abgesang ’45« als Höhepunkt des gesamten Oeuvres feiern möchte, so wenig lässt sich verheimlichen, dass er der schwächste Band von neunen ist. Nachgerade störend darin die reichlichen Passagen aus dem Führerbunker, die durch filmische Verflachung und multimediale Totalausbeutung mittlerweile zum Medienkitsch unserer Zeit gehören. Ihre Aufnahme in den Textkorpus fällt in Kempowskis Verantwortungsbereich; ansonsten hat er keine Schuld an der Schwäche dieses Abschlussbandes. Sie liegt in der Materie selbst begründet und lässt sich nicht beheben: In Zeiten des Weltuntergangs betreibt niemand Selbstreflexion, schreibt keiner Liebesbriefe, findet niemand Muße für Überlegungen über den Tag hinaus. Nur Menschen von stärkster geistiger Konstitution wie der spätere evangelische Bischof Hanns Lilje bringen noch Notate wie das Folgende zustande:

    "In der letzten Nacht, während ich mein Bett wegen des besseren Schutzes gegen Granatsplitter unter das Gitterfenster gezogen hatte, drang aus dem Keller, wo die Gefängnisleitung mit ihren Getreuesten noch ein Abschiedsgelage veranstaltete, der Duft von Gebratenem und der Lärm weinseliger Männer herauf, während oben in ihren Zellen Hunderte von Männern zwischen Hunger und Todesangst fiebernd auf ihre herannahende Befreiung hofften. Ich selber habe geschlafen und sehe ein, dass ich eines Tages eine theologische Abhandlung werde schreiben müssen über den Schlaf als eine Form, Gott zu loben. "

    Ansonsten fehlen im »Abgesang ’45« solche, aus früheren Büchern gewohnte Intermezzi fast gänzlich. Es dominiert das sprachliche Unvermögen, den Weltenbrand in Worte zu fassen, auch die Phrasen der »Großen Zeit« sind beileibe nicht unter allen Trümmern begraben. Nur eine einzige Passage zeigt die Schwierigkeiten des geforderten Mentalitätswandels in authentischen Worten. Was ein 17-Jähriger am 30. April 45 in Koblenz niederschreibt, rührt in seiner pubertären Ernsthaftigkeit ebenso an, wie es das Ringen zwischen alter und neuer politischer Macht widerspiegelt:

    "Ich bin mir darüber klar geworden, dass ich mit meinen Anschauungen, Wünschen und Gedanken nicht in diese Zeit passe. Ich habe es gern, mal etwas vergnügt zu sein, und hasse aber den heutigen Prunk und jede Schminke. Ich bin auch zu offen und ehrlich. Ich kann es nicht, dass ich jemand schöntue und im Inneren der Ansicht bin, dass er nichts taugt. Dann bin ich aber auch wieder herrisch und etwas grob und sehe es gern, dass man mich etwas lobt. Vielleicht würde ich besser in die Biedermeierzeit passen oder in die Zeit der Hanse. Aber ich lebe ja nun einmal heute und habe mich mit meiner Zeit auseinanderzusetzen. -Ich bin nur für einen Führerstaat. Nach meiner Ansicht ist eine Demokratie Unsinn. Die Kirche ist ja auch ein Gebilde, das nur von einem regiert wird. Ich liebe Deutschland über alles und werde meine Kraft daransetzen, dass es wieder stark und machtvoll wird. Ein christlicher, national und sozial regierter Staat, von einer Person geleitet, ist mein Wunschbild, möge ich es noch erleben, einen solchen Staat zu sehen. [Der Luftwaffenhelfer Bruno Hoenig] "

    Viel typischer als diese singuläre Passage sind jene nur authentisch klingenden Berichte späterer Hand, die diesen Echolot-Band prägen, weil unmittelbare Aufzeichnungen fehlen. Meist verrät das Erzähltempus, dass wir es mit nachträglicher Erinnerungsliteratur zu tun haben, in der sich eine bearbeitete Haltung dokumentiert, deren Unerschrockenheit sich dem zeitlichen Abstand zum Geschehen verdankt:

    "Noch hatte ich bis 8.00 Uhr Wache – und bei uns an Bord bzw. in unserem Hafenbecken war es ganz ruhig. Ich konnte also weiter nachdenken und beschloss, mich nach Beendigung meiner Wache zu erschießen. Ich sah aufgrund meiner bisherigen Lebenseinstellung keinerlei Lebensmöglichkeit, und der Tod schien das einzige zu sein, diese Schmach zu überdecken. Als es dann soweit war, machte sich ein anderer Gedanke breit. Das mit dem Erschießen hatte ja wohl noch etwas Zeit; es war doch sicherlich höchst interessant zu wissen, wie es denn nun wohl weiterging. Dieser Gedanke setzte sich fest – und von da an wurde ich nun ein Zuschauer meiner selbst. Und es ging natürlich weiter. [Der Matrose Horst Wilking] "

    Nein, in diesem letzten Echolot fehlen die Inseln, an denen die Empathie des Lesers andocken kann. Die Sogwirkung des Konvoluts ist genauso groß wie immer, doch die Bereitschaft, sich diesem Sog auszuliefern, schwindet von Seite zu Seite. Dass man sich nicht zu entziehen vermochte, hat aber hat die anderen Bände groß gemacht. Insgesamt wirft das die Frage auf, ob Zusammenbruchphasen überhaupt einen Erzählüberschuss in sich tragen, der nachgeborenen Generationen etwas über die Zeit verrät? Denn auf ganzer Linie dominiert eine weitgehend entideologisierte Rette-sich-wer-kann-Haltung; alles, was zur Bewusstseinsschärfung heutiger Leser beitrüge, haben die zurückliegenden Bände weitaus besser herausgearbeitet, als es dieser Schlussstein in der deutschen Klagemauer vermag. Selbst Erleichterung darüber, dass die Waffen schweigen – die natürlichste Empfindung nach fünfeinhalb Jahren Krieg –, findet man unverstellt nur bei den Siegern aus dem Osten:

    "Es mag komisch klingen, Mama, aber wonach ich mich in den letzten Monaten am meisten sehnte, war Stille. Stille ohne das Kläffen der Maschinengewehre, ohne das Lärmen der Geschosse. Gestern gab mir mein Vorgesetzter einen Passierschein. Die anderen gingen auf Trophäenjagd, suchten nach Maschinenpistolen, Feldstechern und Orden. Ich begab mich zum Fluss und starrte zwei Stunden lang auf das strömende Wasser. Und am Abend hörte ich erstmals im Leben, wie in den Büschen die Nachtigallen sangen. [Der Rotarmist Alexander Fedotow] "

    Vielleicht muss man es mit Sammleraugen sehen: Gäbe es diesen Schlussband nicht, fehlte etwas; aber nur ihn zu lesen, verfälscht den Gesamteindruck des Projekts, das ursprünglich noch viel weiter, nämlich bis zur Gründung beider deutscher Staaten 1949 getrieben werden sollte. Man muss dem Manischen daran seinen Respekt abstatten, denn nur durch die Kraft der Besessenheit ist es überhaupt zu diesem monumentalen Werk gekommen. Die Beischrift »Culpa« dokumentiert eine solche Fülle an Stolpersteinen materieller und mentaler Art, dass es Wunder nimmt, wie in einem obstinaten, aufs Gängige schielenden Literaturbetrieb solche Dinge überhaupt entstehen können – mit der Hilfe weniger, gegen die Obstruktionen vieler. Nicht zuletzt der Erben von Fotos und Niederschriften, die bisweilen Summen für einen Abdruck verlangten, wie sie nicht mal von Stern oder Spiegel bezahlt werden. Wenn ihm etwas unersetzlich schien, hat Walter Kempowski selbst in die Tasche gegriffen und damit den deutschen Stiftungs- und Universitätsbetrieb beschämt, der von seinen reichlichen Ressourcen an Zeit, Geld und Personal fast nichts an den Privatgelehrten abtrat. Vielleicht könnte dieser Universitätsbetrieb wenigstens die liegen gelassenen Früchte einsammeln, etwa indem er den Ausruf Kempowskis von 1993 erhört:

    "BLUNCK! Das war ein Fund. "

    Dieser Hans Friedrich Blunck, Hamburger Jurist und Dichter völkischer Literatur, führt in seinen Tagebuchaufzeichnungen die geistige Verfassung der nationalen bürgerlichen Intelligenz idealtypisch vor. Nur weil er nicht der NSDAP beitrat, hielt er sich für kritikfähig gegenüber den Nazis, während er zugleich als beispielloser Kulturkarrierist ihre Sache betrieb (von 1933 bis 35 präsidierte er sogar der Reichsschrifttumskammer). Sollte sein in der Kieler Landesbibliothek verwahrtes Tagebuch nach den Auszügen in den neun Echolotbänden nicht unverzüglich in einer kommentierten Publikation aufgearbeitet werden? Denn bei Blunck lernt man, woher die Anfälligkeit des Bürgertums für Hitler gekommen ist, und warum die Blindheit der Barbarei gegenüber so lange anhielt. Eines ist Walter Kempowski mit seiner volkspädagogischen Arbeit jedenfalls gelungen: Den Blick frei zu machen auf alle Zeitzeugnisse, ungeachtet der darin enthaltenen Verblendungen. Sechzig Jahre nach Kriegsende sind wir mündige Leser geworden, die merken, wann uns wer in welche Richtung locken will. Es gibt keine Lektüreverbote, es gibt nur mangelhafte Interpretationen. Oder um es in den Schlussworten des liberalen Ludwig Marcuse zu sagen, der im April 45 im kalifornischen Exil schrieb:

    "Das moralische Urteil über «Das deutsche Volk», über achtzig Millionen Menschen, kann nicht aus einem Satz bestehen. Ein Mädchen, das gläubig auf der Schulbank Hitler gelernt hat, ist anders zu beurteilen als ein älterer Professor, der ungläubig von Hitler gelebt hat. Kein Verzeichnis der Gräuel sollte uns dahin bringen, so unzugänglich für das Individuum zu sein, wie es die verstorbene deutsche Gewalt war. "

    Walter Kempowski: »Das Echolot – Abgesang ’45«
    494 Seiten, 49,90 Euro
    Walter Kempowski: »Culpa – Notizen zum Echolot«
    384 Seiten, 19,90 Euro
    Albrecht Knaus Verlag