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Anschläge von Hanau und Volkmarsen
Coronakrise behindert die kollektive Trauerarbeit

Im Februar starben elf Menschen bei einem rassistischen Attentat in Hanau, nur Tage später wurden durch ein Autoattentat auf den Rosenmontagszug in Volkmarsen 150 verletzt. Beide Ereignisse werden nun von der Coronakrise überlagert, die die kollektive Aufarbeitung an beiden Orten behindert.

Von Ludger Fittkau | 27.03.2020
Am Brüder–Grimm-Denkmal vor dem Rathaus sind Blumen und Kerzen zum Gedenken abgelegt.
Durch die Coronakrise kann nur bedingt öffentlich getrauert werden (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
Marktplatz Hanau, am Brüder Grimm-Denkmal. Wie schon nach dem rassistischen Anschlag des 19. Februar mit insgesamt elf Toten ist auch heute noch der Sockel der mächtigen Doppel-Statue für die berühmten Söhne der Stadt mit Blumen und Kerzen übersäht – im Gedenken an die Opfer des Attentats:
"Also, ich denke immer noch jeden Tag dran. Auch wenn ich keinen Beteiligten daran hatte. Aber es sind Menschen wie wir alle. Ich denke immer noch an die Menschen, die jetzt sterben müssen." Martina Bienewald meint die Corona-Opfer. Ihr Mann arbeitet auf der Intensivstation eines nahegelegenen Krankenhauses.
Segi Koc findet es ein wenig traurig, dass die Toten von Hanau überregional schon nach wenigen Wochen so sehr aus der Öffentlichkeit verschwunden sind: "Wir sind jetzt in einer Situation, dass wir das schon vergessen haben. Es kommt leider in Vergessenheit und das stört uns, weil das Bekannte von uns sind. Und natürlich ist die Corona auch ein sehr wichtiger Punkt. Wo wir alles einhalten müssen. Aber dass das jetzt in Vergessenheit kommt, passt uns natürlich nicht."
Heute ist Markttag. Der 39 Jahre alte Markthändler Segi Koc hat seinen Blumenstand direkt neben dem zentralen Gedenkort für die Opfer von Hanau aufgebaut. Am vergangenen Wochenende hat er mit einigen anderen verwelkte Blumen vom Sockel genommen.
"Das sind Freunde von uns. Der Gökhan zum Beispiel. Mit dem bin ich aufgewachsen, mit dem Vater eines anderen Jungen arbeite ich schon seit 15 Jahren zusammen. Es ist nicht einfach, man sollte so etwas einfach nicht vergessen."
Seit Wochen ist in Hanau Krise
Drei Kilometer weiter außerhalb – am Stadtrand von Hanau. In der neuen Feuerwache der Stadt tagt seit Wochen der Krisenstab der Kommune. Erst der Anschlag vom 19. Februar, dann Corona.
Ich treffe den Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky in einer großen Halle mit Löschfahrzeugen. Er bedauert es, dass die kollektive Trauer der Angehörigen und vieler Freundinnen und Freunde der Opfer durch das physische Kontaktverbot in der Coronakrise so erschwert ist:
"Ja, das bedauere ich sehr. Es wäre für Hanau genau wie in Volkmarsen natürlich gut gewesen, wenn die Stadt die Chance gehabt hätte – die Stadtgesellschaft – ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Auch das, was am 19. Februar auf den 20. Februar in Hanau passiert ist, ein Stück miteinander weiter zu verarbeiten. Diese Möglichkeit ist uns genommen. Wir sind jetzt von einer Extremsituation in Hanau im Grunde direkt gewechselt in eine annähernd weltweite Extremsituation. Aber wir sind ein Teil davon."
Der Bürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, in der Feuerwehrhalle
Der Bürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, in der Feuerwehrhalle (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
Der Hanauer OB Claus Kaminsky spricht den zweiten schweren Anschlag in Hessen an, der sich am Rosenmontag im nordhessischen Volkmarsen ereignete und bei dem rund 150 Menschen körperlich und seelisch verletzt wurden – zum Teil sehr schwer. Auch wenn bis heute in Volksmarsen niemand gestorben ist – auch hier erschwert die Coronakrise die Verarbeitung der Gewalttat. Hartmut Linnekugel, Bürgermeister von Volkmarsen:
"Kommunikation wäre jetzt nach dem Attentat vom Rosenmontag sicherlich sehr wichtig. Aber die Leute kommunizieren auf anderen Wegen. Wir sind ja im Rathaus die Koordinierungsstelle. Wir merken, dass das Thema weiterhin bewegt und die Leute auf anderen Wegen kommunizieren."
Das Internet hilft nur bedingt
Etwa über Social-Media-Kanäle. Das machen Segi Koc und seine Freundinnen und Freunde in Hanau auch. Doch es reicht vielen nach dem Verbrechen vom 19. Februar nicht:
"Die sozialen Medien wie Instagram oder Facebook – da teilt man sich auch gewisse Sachen. Aber wenn man sich vor Ort trifft und gewisse Sachen auch vor Ort sieht, ist es viel, viel besser, als wenn man sowas nur über Facebook oder Instagram teilt."
Das sieht auch der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky so. Auch er bedauert, dass die kollektive Trauerarbeit nach dem 19. Februar durch Corona jäh gestoppt wurde und glaubt nicht, dass das Internet da ein Ersatz ist. Dennoch werden weder der Attentäter noch das Virus die Solidarität, die es in der Stadt gibt, zerstören, hofft der SPD-Politiker:
"Wir lassen uns von einem irren Rassisten oder von einem rassistischen irren, je nach Betrachtung jedenfalls unsere Art des Zusammenlebens nicht zerstören, das seit Jahrhunderten sich bewährt hat. Das nie einfach ist. Und jetzt gemeinsam an die Arbeit zu gehen und zu sagen trotz alledem! Hanau hat seine guten Zeiten immer noch vor sich, nicht hinter uns. Das ist jetzt ein Stück durch die Coronakrise natürlich überlagert. Aber wenn man etwas positiv sehen will, dann das: Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl in der Stadt, was nach dem 19. Februar entstanden ist, setzt sich jetzt auch in gewisser Weise fort im Zusammenstehen bei der Bewältigung der Coronakrise."