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Anschreiben gegen den Verlust

Im zweiten Teil von Katharina Hackers Trilogie kommen die Personen aus Teil eins in anderen Konstellationen zusammen. Gleichzeitig verliert die Mutter eines Protagonisten ihr Gedächtnis - zwischen diesen Polen bewegt sich Hackers Roman.

Von Martin Krumbholz | 08.09.2010
    "In Lydia war er hineingerannt", so beschreibt Katharina Hacker den Beginn der Romanze zwischen dem in Berlin lebenden Arzt Anton und seiner Kollegin Lydia, Personen um die 40, die also schon ein Stück Leben hinter sich haben und nun gewissermaßen im Begriff sind, die zweite Hälfte ihres Lebens zu planen. Lydia hat von einem anderen Mann ein Kind, während auch Anton zuvor in eine andere Frau verliebt war, Alix, die indes ihren gemeinsamen Freund Jan geheiratet hat. So sind die Verhältnisse heutzutage: diffus und komplex.

    Bereits im Vorgängerbuch, "Alix, Anton und die anderen", hat die Schriftstellerin das Ensemble dieser Fourtysomethings vorgestellt. Doch ein anderer Aspekt, der Titel deutet es an, rückt nun im zweiten Buch der (geplanten) Trilogie in den Vordergrund: Antons Mutter Hilde verliert ihr Gedächtnis, zum ersten Mal hat sie vergessen, rechtzeitig die Erdbeeren zu pflanzen, die sie zum jährlichen Einkochen ihrer Lieblingsmarmelade benötigt. Die beginnende, nicht unschwierige Liebe und der sich abzeichnende Verlust eines Menschen bezeichnen die Kontrapunkte, zwischen denen das Leben des Protagonisten Anton sich bewegt.

    "Das Anschreiben gegen den Verlust beschäftigt mich immer, daher ist es auch in diesem Buch zentral. Ich stelle es mir so anrührend und erschreckend vor, wenn man die Physis eines Menschen noch unbeschadet vor sich hat und trotzdem feststellen muss, da ist jemand im Verschwinden begriffen."

    Literatur hat ja seit jeher die Aufgabe, dem Verschwinden entgegen zu wirken. Katharina Hacker gelingt das mit sparsamen Mitteln, nie trägt sie dick auf, sie setzt keine dramatischen Effekte, beschreibt aber sorgfältig die kleinen Dinge des Lebens, die Nuancen, die Schattierungen. Auch die Liebe zwischen Anton und Lydia hat nichts Eindeutiges, sozusagen Unwiderstehliches – es ist eine zögernde Liebe, schattiert von dem Bewusstsein, dass man zuvor andere Menschen begehrt hat. Passen Liebe und Glück überhaupt zusammen? Das schiere Begehren wird einmal mit dem Epitheton "blind" versehen, während das Glück als etwas erscheint, das man geradezu sehenden Auges planen kann (ohne freilich zu wissen, ob es funktioniert).

    "Sachen, die so ganz perfekt zusammenpassen, brauchen wirklich niemanden, der darüber schreibt. Unter all den Verhältnissen, die ich kenne, sind wenige glatt und kantenlos: Mich interessiert eher, wie Leute mit Brüchen umgehen, wie man trotzdem glücklich ist. Dieses Glück, das sogar lebensbestimmend sein kann, ist für mich eine Form von Freiheit, und da spielt dann die Demenz wieder eine Rolle, die ja einen dramatischen Verlust von Freiheit bedeutet."

    Über Anton heißt es einmal, er sei "halb glücklich".

    "Wenn man schon Glück hat, ist man die meiste Zeit halb glücklich. Die Zeiten, wo man Dinge so ganz intensiv erfährt, sind auch meist die prekären Zeiten! Ich kriege oft zu hören, meine Leutchen seien immer so unglücklich: Langsam macht es mich zornig, weil ich darin eine Form von Verlogenheit sehe; ich gehe raus auf die Straße und sehe mir die Leute an und denke, was redet ihr denn, die Menschen sind halt meistens nicht glücklich. Es gibt wohl eine gesellschaftliche Bevorzugung des Glücklichseins, wie es zu anderen Zeiten eine Bevorzugung der Melancholie geben mag. Ich finde es völlig besemmelt, entspannt zu sein: Wieso soll ich als eine Person, die berufstätig ist, Zeitung liest und Kinder hat, entspannt sein? Ich mag diese Forderung nicht."

    Auch Liebe und Glück sind offenbar nicht von vornherein identisch.

    "Nee. Liebe ist ja viel zu sehr auf den anderen gerichtet und kann deswegen unendlich bange sein. Es ist ein zittriger Zustand. Mich hat das Glück interessiert als etwas, das mit respektvoller Distanz zu tun hat und damit, dass man jemandes Biografie so belassen muss, wie sie ist."

    Anton ist der Protagonist, aber sein Gesichtspunkt ist keineswegs der einzige dieses Romans. Katharina Hacker erzählt polyphon, sie wechselt innerhalb ihres Ensembles permanent die Perspektive, die sie jeweils nur um ein geringes überschreitet. Im vorigen Buch hat sie die Mehrstimmigkeit sogar typografisch, durch einen zweispaltigen Satz, hervorgehoben. Sie bleibt ihrem Personal gewissermaßen dicht auf den Fersen, aber nicht nur einer einzigen Figur, sondern vielen – und nähert sich damit fast einer Art des auktorialen Erzählens an.

    "Ich würde gerne mal so einen strikt auktorialen Roman schreiben, ich kann es aber nicht, es gelingt mir nicht. Ich rutsche immer zu nah an die Figuren ran – die göttliche Perspektive einzunehmen, ist mir leider nicht gegeben. Was mir inakzeptabel erscheint ist, eine Stringenz herzustellen, an die man de facto nicht glaubt. Der Versuch, das durch zwei Spalten aufzubrechen, ist eigentlich schon genau das, was mich interessiert: diese Mehrgleisigkeit herzustellen, dieses Zerbrochene, sich wieder Zusammensetzende. Ich bin eben in den siebziger Jahren groß geworden: Ich kenne Bernd Alois Zimmermann, Requiem für einen jungen Dichter, das sind sechs Tonspuren! Es ist ein großartiges Kunstwerk, und ich finde es blöd, alles so nacheinander aufzunehmen und abzuspulen, wie wir es traditionellerweise gewohnt sind. Ich möchte das gerne aufbrechen und trotzdem so mitreißend schreiben, dass die Leute nicht denken, huch, das sind ja zwei Spalten, das wird jetzt kompliziert."

    Es gibt in diesem Roman der Brüche und Übergänge keine Lösungen. Sicher, die Erdbeeren oder auch die fertige Erdbeermarmelade könnte man notfalls im Supermarkt kaufen; doch die dahinter liegenden tieferen Probleme bleiben offen: Antons Mutter wird ihr Gedächtnis nicht wiederfinden, Rüdiger, der Vater von Lydias Tochter, wird Lydia vergeblich weiter begehren und auch Anton kann sich der Liebe Lydias am Ende des Romans nicht wirklich sicher sein. Und wie wird es im dritten Teil der Trilogie mit Anton, Lydia und den anderen wohl weitergehen?

    "Kinderhaben und Kinderlosigkeit werden eine Rolle spielen. Aber die Dinge verselbstständigen sich ja tatsächlich. Ich wollte etwas schreiben, das damit zu tun hat, dass ich mich mit dem Tod von Menschen nicht abfinden kann: Das heißt, ich hantiere dann immer in solchen Zwischenbereichen. Esoterik liegt mir aber gar nicht, und ich weiß noch nicht, wie ich die Toten in meinen Roman hinein hole. Im Jüdischen spielt Versöhnung eine große Rolle, da wird das Auseinandergebrochene zusammengefügt, und diese Spannung zwischen dem Zerbrechen und dem Zusammenfügen ist das, was mich beim Schreiben eigentlich immer umtreibt. Ich weiß nie, ob es klappt."

    Katharina Hacker: "Die Erdbeeren von Antons Mutter". Roman. Fischer, 175 S., 17,95 Euro.