Donnerstag, 25. April 2024

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Anspiel - CD-Booklets
Mehr als nur Lexikonwissen

Richtig gute Booklets bereichern eine CD als Produkt ungemein, doch viel zu oft werden in trockenen, sehr musikwissenschaftlichen Texten mur die immergleichen Werkinformationen wiederholt. Was macht ein gutes Booklet aus? Drei Beispiele, die das Hören bereichern.

Von Christoph Vratz | 02.06.2021
Vogelsicht auf einer Fläche aus Holz, auf der verschiedene Blätter und Hilfsmittel wie ein Stift sehr geordnet nebeneinander liegen.
Wie füllt man die weißen Seiten eines Booklets besonders gut? (imago stock&people)
Musik: Reynaldo Hahn – Ô mon bel inconnu
Wieder eine Entdeckung! Reynaldo Hahn, der bis heute unterschätzte französische Komponist, hat 1933 eine musikalische Komödie komponiert: "Ô mon bel inconnu" –ein leicht frivoles Stück, boulevardesk, unterhaltsam, kurzweilig. Und doch seit langem vergessen. Jetzt hat die Gesellschaft Palazzetto Bru Zane bei ihrem hauseigenen Label Hahns musikalischen Schwank wieder zugänglich gemacht, mit dem Orchester von Avignon-Provence unter Samuel Jean. Damit reiht sich diese CD ein in eine Edition, wie es sie in Deutschland – leider – nicht gibt: Die Bru Zane Reihe fördert entlegenes, aber lohnendes Repertoire ans Licht: Musik von Félicien David oder André Messager, von Fernand de la Tombelle oder vermeintlich zweitklassige Werke von Jacques Offenbach.
All diese Folgen werden ergänzt weniger um Booklets im herkömmlichen Sinne, als vielmehr um richtig Bücher, hochformatig und meist um die 200 Seiten dick, mit festem Einband, mehrfarbigem Druck und hochwertigem Papier – sie enthalten nicht nur die kompletten Textbücher, sondern auch eine Reihe von Artikeln, die den jeweiligen Hintergründen zum Werk nachspüren. Keine Schmalspur-Infos, sondern fundierte Texte, thematisch mit viel Bedacht ausgewählt. Da liest man sich gerne fest, erfährt Aufwertendes über unterschätzte Stücke. Eine Sammlung, die in dieser Form einzig ist

Zentraler Aspekt: die Ästhetik

Ein Manko hat die Bru Zane Edition dann doch: Die Texte sind ausschließlich in französischer und englischer Sprache. Wie gern würde man ein paar Euro mehr investieren und bekäme dafür auch eine deutsche Fassung. Denn die Edition erfüllt nicht nur musikalisch hohe Ansprüche, sondern begeistert Sammler und Bibliophile.
Die Ästhetik solch üppig gestalteter Booklets ist sicher ein zentraler Aspekt, auch was die Bebilderung angeht. Inzwischen vertreiben viele Opernhäuser und vor allem Orchester ihre Aufnahmen über eigene Labels. So auch die Berliner Philharmoniker. Sie haben nach einem Schubert-, Sibelius- und Beethoven-Zyklus nun auch eine Edition mit allen Sinfonien von Gustav Mahler veröffentlicht, unter verschiedenen Dirigenten. Auch hier bietet das gedruckte Beibuch einen klaren Mehrwert gegenüber dem digitalen Download.
Musik: Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 9
In diesem Fall umfasst das Begleitbuch knapp 130 Seiten, ebenfalls zweisprachig: deutsch und englisch. Neben der reinen Lust, in diesem opulent und wertig aufgemachten Band zu blättern, sind es die Hintergrund-Texte, die exklusive Einblicke geben. Damit sind nicht die bewusst knapp gehaltenen Einführungen zu jeder der Mahler-Sinfonien gemeint – diese Infos findet man leicht auch auf anderen Wegen. Vielmehr garantieren Texte wie der zur Mahler-Tradition der Berliner Philharmoniker oder zur Kunst der Andeutung bei Mahler einen Erkenntnisgewinn.
Musik: Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 6

Das Booklet schließt die Interpretation auf

Was aber ist bei CD-Veröffentlichungen mit Werken des Standard-Repertoires? Braucht man bei einer Neuaufnahme von Mozarts Jupiter-Sinfonie oder von Tschaikowskys erstem Klavierkonzert überhaupt noch ein ausführliches Booklet? Eher weniger, zumindest wenn darin lediglich das jeweilige Werk vorgestellt wird – wie heute immer noch oft genug der Fall. Was aber, wenn ein Künstler seine eigene Vorgehensweise dezidiert darlegt?
Musik: Ludwig van Beethoven - Missa solemnis op. 123
Dirigent René Jacobs hat in diesem Jahr eine neue Einspielung von Beethovens "Missa solemnis" veröffentlicht. Ohne die Informationen, die sein zwölfseitiges Interview im Beiheft liefert, würden sich manche Aspekte seiner Interpretation nicht oder nur schwer erschließen: sei es die Symbolik Beethovens bei der Orchestrierung des Eröffnungssatzes oder die ungewöhnliche Aufstellung der Musiker: Jacobs orientiert sich an einer Praxis des 19. Jahrhunderts. Damals stand der Chor bei Oratorien seitlich oder sogar versetzt vor dem Orchester. Die Solisten aber standen ganz hinten. Das Beiheft liefert genaue Begründungen, fasst Forschungsergebnisse zusammen – und liefert zentrale Informationen, die das Hören dieser Aufnahme mit ihren vielen Besonderheiten sicher erleichtern.
Musik: Ludwig van Beethoven - Missa solemnis op. 123
Gerade bei Musikern, die mit ihren Aufnahmen auch das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit dokumentieren, ist ein fundiertes Beiheft auch heute noch eine unerlässliche Informationsquelle. So kann gedruckten Booklets im Digitalzeitalter weiterhin eine mehrfache Funktion zukommen: als Begleit-Buch im eigentlichen Sinne bei mehrmaligem, vertiefendem Hören, als Quelle für unverzichtbare Hintergrund-Erklärungen und als ein ästhetischer Mehrwert, der womöglich sogar zum Sammeln verleitet…