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Antarktis schmilzt doch

Polarforschung. - Das Verhalten der beiden gewaltigen Eiskappen an den Polen der Erde ist eine große Unbekannte im Klimaspiel. Während die Forscher übereinstimmend konstatieren, dass Grönland abschmilzt, war man sich im Fall der Antarktis uneins. Eine große Zusammenschau aller verfügbaren Daten zeigt jetzt: Auch in der Antarktis überwiegt der Gletscherschwund im Westen den Zugewinn an Eis im Osten. Die Studie erscheint in der aktuellen "Science".

Von Volker Mrasek | 30.11.2012
    Der neue Fachartikel ist Abschluss eines Mammut-Projektes. Zwei Forscher koordinierten das ganze Unternehmen. Einer der beiden ist Andrew Shephard von der Universität Leeds in England:

    "An unserer Studie waren 47 Wissenschaftler aus 26 verschiedenen Labors beteiligt. Wir haben Daten von zehn verschiedenen Satelliten-Missionen zur Beobachtung der polaren Eisschilde ausgewertet. Zusammen ergab das mehr als 50, sich überlappende Beobachtungsjahre."

    Laut Shephard beendet die Studie 20 Jahre der Unsicherheit darüber, wie sich die großen polaren Eisschilde im Zuge der Klimaerwärmung verhalten:

    "Wir können jetzt mit viel größerer Sicherheit sagen: Beide verlieren Eis! Grönland und auch die Antarktis. Seit 1992 hat das Schmelzwasser den Meeresspiegel um elf Millimeter erhöht. Das ist ein Fünftel des gesamten Anstiegs, der in dieser Zeit beobachtet wurde."

    Der Meeresspiegel steigt vor allem deshalb, weil sich Wasser ausdehnt, wenn es sich erwärmt. Hinzu kommt dann noch das Gletscher-Schmelzwasser. Daß der Eisschild auf Grönland abschmilzt, ist schon lange klar. Darin stimmten alle Studien überein. Kein einheitliches Bild gab es dagegen für die Antarktis. Im Westen ist ihr Eispanzer zwar eindeutig geschrumpft. Doch die viel größere Ost-Antarktis schien sogar zu wachsen, durch zunehmende Schneefälle. Das stimmt auch! Doch nun ist offenbar klar: Der Eisverlust im Westen überwiegt den Zuwachs im Osten deutlich. Netto verlor die Antarktis demnach seit 1992 70 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Und Grönland etwas mehr als das Doppelte. Wobei sich die Gletscherschmelze dort beschleunigt. Erik Ivins von der US-Raumfahrtbehörde Nasa, der zweite Koordinator der neuen Studie:

    "Grönland verliert heute fünfmal so schnell Eis wie Anfang der 90er Jahre. In der Antarktis dagegen blieb die Verlustrate mehr oder weniger stabil."

    Es gibt zwei Methoden, um die polaren Eiskappen aus dem All zu vermessen. Für die eine nutzt man Laser-Licht oder Radarwellen. Satelliteninstrumente schicken sie zur Erde, die Eisoberfläche reflektiert sie. Das andere sind Schwerefeld-Messungen. Sie werden seit 2003 von einem Satelliten-Paar namens Grace durchgeführt. Die Bordinstrumente reagieren auf kleinste Variationen der Anziehungskraft, wenn es Massenveränderungen am Erdboden gibt. Die Ergebnisse der beiden Verfahren waren bisher nicht recht unter einen Hut zu bringen. Das lag an Problemen mit den Grace-Daten ...

    "Es gibt ein Phänomen, das nennt sich nacheiszeitlicher Rückprall. Noch heute entspannt sich die Erdkruste von der Last des Eispanzers aus der letzten Eiszeit. Diese Aufwärtsbewegung kann bis zu einem Zentimeter pro Jahr betragen. Es sind Massenveränderungen, die die Grace-Satelliten miterfassen und ihre Messungen verfälschen. Wir haben jetzt die Ortungsdaten von GPS-Empfangsstationen in der Antarktis herangezogen. Sie zeigen die Aufwärtsbewegungen des Bodens millimetergenau. Dadurch konnten wir diese Prozesse besser modellieren. Und die Schwerefeld-Messungen stimmen nun viel besser mit den anderen Satelliten-Messverfahren überein."

    Die neue Studie ist ein Rückblick auf die letzten 20 Jahre. Schlüsse für die Zukunft könne man daraus leider nicht ziehen, bedauert Ian Joughin, Polarforscher an der Universität von Washington in Seattle:

    "Diese Studie erlaubt uns keine Vorhersage über den künftigen Beitrag der Polkappen zum Meeresspiegelanstieg. Dafür brauchen wir nicht nur kontinuierliche Beobachtungen, sondern auch eine ganz neue Klasse von Computermodellen, die das Verhalten der Eisschilde realistisch simulieren."

    Der Meeresspiegel bleibt auf jeden Fall ein heißes Eisen. In den letzten 20 Jahren sei er schneller angestiegen als nach den Projektionen des Welt-Klimarats, heißt es in einer anderen neuen Studie. An ihr war auch der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf beteiligt. Sein Fazit: Der Welt-Klimarat sei keineswegs alarmistisch, wie mitunter behauptet wird. Vielmehr habe er, wie in diesem Fall, Klimarisiken sogar unterschätzt.