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Anthologien für Familien
Gedichte, Bilder und Erzählungen für jedes Alter

Hausbücher, oft auch als Familienbücher bezeichnet, sind Textsammlungen, die alles bieten, was das Herz begehrt: Geschichten und Bilder, vor allem aber Lyrik. In den vergangenen Monaten kamen gleich mehrere solcher Anthologien auf den Markt.

Von Sylvia Schwab | 30.11.2013
    Fast könnte man meinen, jeder Kinder- und Jugendbuchverlag, der auf sich hält, hat in den vergangenen Monaten ein eigenes "Hausbuch" auf den Markt gebracht. Und auch, wenn diese liebevoll und großzügig gestalteten Bücher den Begriff "Hausbuch" nicht ausdrücklich im Titel tragen - sie knüpfen doch an diese alte Tradition an:
    - Dunkel war’s, der Mond schien helle. Verse, Reime und Gedichte.
    - Folge deinem Traum. Geschichten, Bilder, Gedichte für wache Kinder jeden Alters.
    - Glücksvogel. Geschichten, Gedichte und Bilder.
    - Der beste Tag aller Zeiten. Weitgereiste Gedichte.
    - Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Schüttelreime, Zungenbrecher, Quatschgedichte und mehr.
    Es waren zwei Königskinder,
    Die hatten einander so lieb,
    Sie konnten zusammen nicht kommen,
    Es war kein Fährbetrieb.
    Hausbücher, oft auch als Familienbücher bezeichnet oder als Jahrbücher ediert, sind Textsammlungen, die alles bieten, was das Herz begehrt: Geschichten und Bilder, vor allem aber Lyrik, die hier unter "Verse", "Reime" oder "Gedichte" erscheint. Traditionelles und Aktuelles, Spaß und Ernstes, Konkretes und Abstraktes. Eine kreative Mischung im einen Fall, ein Sammelsurium im anderen. Doch gerade das hat Tradition:
    "Der Begriff des Hausbuchs ist zuerst Mitte des 16. Jahrhunderts zu finden. Hier kommen zwei Dinge zusammen, eine aus dem Lutherischen kommende Vorstellung einer Hausgemeinschaft, dahinter steht noch das ganze Haus, eine Familie als Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft, zu der ja nicht nur die Verwandten gehörten, sondern auch Dienstboten und Klienten. Zum Zweiten ist es angesiedelt in einer Welt, in der der Buchbestand, wenn überhaupt vorhanden, sehr klein war. Daher auch das Bemühen, alle wichtigen Dinge in ein oder zwei Bänden zu versammeln und zur Verfügung zu stellen."
    Bernhard Schmitz, Kurator im Bilderbuchmuseum Troisdorf, kann über die Geschichte der Gattung einiges berichten. So fand im 19. Jahrhundert langsam eine Literarisierung des früher ja vor allem dokumentarischen Genres statt. Und mit der Veröffentlichung von Ferdinand Avenarius’ "Hausbuch Deutscher Lyrik" im Jahr 1902 war das Hausbuch endgültig im Bereich der literarischen Anthologie angekommen. Eine Sammlung übrigens, die viele Auflagen erfuhr und für viele spätere zum Vorbild wurde.
    Joseph von Eichendorff: Schläft ein Lied in allen Dingen
    Schläft ein Lied in allen Dingen,
    die da träumen fort und fort;
    Und die Welt fängt an zu singen,
    Triffst du nur das Zauberwort.
    Joseph von Eichendorff
    Joseph von Eichendorff (picture alliance / dpa)
    Als Hausbuch bezeichnen viele Verlage heute die unterschiedlichsten Anthologien. Mal wenden sie sich nur an Kinder, häufig aber auch an die ganze Familie. Analog zum Begriff "Hausmärchen", das ja auch für alle Altersklassen gedacht ist. Wer im Internet sucht, findet ganze Regale voll von Hausbüchern - obwohl der Begriff gerade bei jüngeren Ausgaben häufig nicht im Titel steht. Bernhard Schmitz:

    Illustrationen mit dabei
    "Im Prinzip muss man ja auch überlegen, ob die Titelwahl nicht auch nach Marketinggesichtspunkten getroffen wird. Zu bestimmten Zeiten wäre es als "Hausbuch" zu altbacken gewesen. Inzwischen kann man wieder daran anknüpfen, weil es etwas Nostalgisches transportiert. Und auch Erwartungen wecken will durch diese Titelwahl, die ja darauf hindeutet, dass man hier ein wertvolles Kompendium hat, das für viele Leser und für viele Gelegenheiten geeignet ist."
    Fast von Anfang an sind auch Illustrationen dabei. Friedbert Stohner, 40 Jahre lang Verleger bei Ravensburger, Carlsen, Beltz & Gelberg und Hanser kennt das Genre aus langjähriger Verlegerpraxis:
    "Auf die Hausbücher bezogen ist die Illustration ja ursprünglich fast der Kern, kann man sagen. Viele, was wir heute kennen, bildliche Darstellungen von alten Berufen beispielsweise, die kennen wir aus solchen Hausbüchern. In dieser Tradition hat sich gehalten, dass Hausbücher auch Illustrationen haben sollen. Das ist regelrecht ein Charakteristikum des Hausbuchs. Und heute zeigt sich, das ist sicher etwas, was man nicht neu erfunden hat, aber wo man heute den Illustratoren, den Künstlern, mehr Raum lässt, dass sie sozusagen sich selber dort zeigen und zeigen, was sie in diesem Text lesen."
    "Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm"
    Lebe glücklich, lebe froh
    wie der Mops im Paletot.
    Lebe glücklich, lebe froh
    wie der König Salomo,
    der auf seinem Stuhle saß
    und ein Stückchen Käse aß.
    Lebe glücklich, werde alt,
    bis die Welt in Stücke knallt.
    Beginnen wir mit "Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm", erschienen bei Tulipan und für "alle Menschen zwischen 0 und 99 Jahren" empfohlen. "Schüttelreime, Zungenbrecher, Quatschgedichte und mehr" sind hierversammelt. Die Bilder und Illustrationen stammen allesamt von der Grafikerin und Illustratorin Eva Muggenthaler. Was - trotz sehr unterschiedlicher Illustrationsformen - schon beim ersten Durchblättern einen durchkomponierten Eindruck erweckt.
    Es gibt ein’ Anfang und ein Ende,
    dazwischen alles, was man mag:
    Limerik
    Schüttelreim
    Abzählvers
    Kniereiter
    Fingerspiel
    Gedicht
    - nur Kapitel gibt es nicht.
    Kapitel - also eine sichtbare Ordnung - gibt es wirklich nicht in diesem großen, mit rotem Leinenrücken versehenen Prachtband. Dafür alle aufgezählten Arten von scherzhaften Reimen, Rätseln und Versen. Nur Lyrik, nur Lustiges und Spaßhaftes, nur eineKünstlerin - ein klares, reduziertes Konzept. Wodurch die Bilder von Eva Muggenthaler noch einmal an Gewicht gewinnen. Zu Recht! Denn wieder einmal stellt die Künstlerin ihre Vielseitigkeit unter Beweis! Mit Lust und Fantasie lässt sie sich auf die verschiedensten Formate und Techniken, Themen und Töne ein.

    Paul Maar: Kinderbett
    In Alexanders Kinderbett,
    da legten sich zwei Ziegen.
    Er rief: "Das ist ja gar nicht nett,
    zwei Ziegen hier in meinem Bett!"
    Da sind sie rausgestiegen.
    Wird eine thematische Ordnung auch nicht wirklich sichtbar, so überzeugt umso mehr das Layout des Bandes. Illustrationen und Texte verschachteln sich ineinander, liegen übereinander, ergänzen sich auf erfrischende Weise. Sehr sorgfältig ist auch der Anhang mit thematischem und alphabetischem Inhaltsverzeichnis, Quellen- und Autorenverzeichnis angelegt. Und auf der letzten Seite macht der Verlag noch Werbung in eigener Sache: Einige weitere "Hausbücher aus Tulipanien zum Wünschen und Verschenken" werden dort angezeigt.
    "Mit dem Schenken ist das Stichwort eigentlich gesagt. Das ist ja kein Spezifikum von Hausbüchern, dass sie verschenkt werden. Knapp 90 Prozent aller Kinderbücher werden verschenkt. Aber die Hausbücher sind eben noch mal eine Möglichkeit, den Schenkenden dazu zu verleiten, dass er ein paar Euro mehr in die Hand nimmt und mit dem Geschenk fast ein Statement abgibt."
    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Vor allem, wenn man bedenkt, welche Kosten einem Verlag entstehen, wenn er weitgehend alte oder anonyme, also rechtefreie Texte abdruckt wie dieser Band! Er versammelt vorrangig volkstümliche Verse und Reime, deren Autoren unbekannt oder schon gestorben sind. Das heißt, die Auswahl der Gedichte ist eher konservativ, wenn auch nicht konventionell. Denn es sind nur wenige Autoren darunter, die zu den "üblichen Verdächtigen" gehören, wie Ringelnatz, Morgenstern oder James Krüss. Alles in allem eine sehr solide, bis auf die Bilder aber nicht besonders kreative Sammlung!
    "Dunkel war’s, der Mond schien helle"
    Dunkel war’s, der Mond schien helle,
    Schnee lag auf der grünen Flur,
    als ein Auto blitzeschnelle
    langsam um die Ecke fuhr.
    Drinnen saßen stehend Leute,
    schweigend ins Gespräch vertieft,
    als ein totgeschoßner Hase
    auf der Sandbank Schlittschuh lief.
    "Dunkel war’s, der Mond schien helle", auch dieser große Band mit Versen, Reimen und Gedichten aus dem Gerstenberg Verlag ist nur von einer Künstlerin illustriert, von Rotraut Susanne Berner. Frisch, frech, bunt und lustig wimmeln ihre kleinen Figuren über die Seiten. Mitten zwischen den Versen hindurch, einfallsreich auf die Texte bezogen, sie aber nicht wiederholend.
    Porträt des Schriftstellers Erich Kästner
    Porträt des Schriftstellers Erich Kästner (picture alliance / dpa)
    In neun Kapitel sind die Gedichte dieser Anthologie geordnet. Von "Sprachmusik" und "Spielen" über "Verwirr-Reime" und "Tiere" bis hin zu "Nachdenken" und "Liebe". Die Autoren sind bunt gemischt, von den großen Dichtern wie Goethe und Heine, Brentano und Rilke bis zu den altgedienten Hausbuch-Spaßmachern Morgenstern und Ringelnatz, Heinz Erhardt und Erich Kästner. Dazwischen die aktuellen Kinder-Klassiker wie Christine Nöstlinger, Hanna Johansen, Josef Guggenmos oder Frantz Wittkamp.
    Frantz Wittkamp: Gestern
    Gestern hab ich mir vorgestellt,
    ich wär der einzig Mensch auf der Welt.
    Ganz einsam war ich und weinte schon,
    da klingelte leider das Telefon.
    Was Edmund Jacoby hier zusammengestellt hat, gleicht einer wahren Fundgrube! Denn: von kindlich oder kindgerecht über jung und frech bis hin zu besinnlich, kreativ, kunstvoll und klassisch ist alles dabei. Kinderreim und Lautgedicht, Zungenbrecher und Wiegenlieder, Rätsel und Märchenhaftes. Aber eben auch Goethes "Zauberlehrling", einige Heine- und Fontane-Balladen oder Robert Gernhardts ironisch-saloppes "Scheitern einer Ballade".
    Den Band schließt ein sorgfältiges Autoren-, Gedichte- und Quellenverzeichnis ab, und darin taucht im Zusammenhang mit jungen Dichtern immer wieder derselbe Name auf: Hans-Joachim Gelberg. Denn: Man kann es wohl so formulieren: Was Ferdinand Avenarius’ mit seinem "Hausbuch Deutscher Lyrik" aus dem Jahr 1902 für die allgemeine Hausbuch-Kultur bedeutete, hat der Verleger Hans-Joachim Gelberg in den vergangenen 40 Jahren für die moderne Deutsche Kinderlyrik geleistet. Friedbert Stohner:
    "Wenn man zurückgeht vor die - ich nenne das mal: ‚die großeWende der Kinderliteratur‘ am Ende der 60er-Jahre, wird man viele Bücher finden, bei der Insel beispielsweise noch, die wirklich noch diesen alten, traditionellen, alles umfassenden Hausbuchcharakter haben. Da gab es Bücher über die Kindheit, über Weihnachten und solche Dinge. Seit dieser Wende, dieser modernen Wende in der Kinderliteratur, die sich eben mit dem Namen und Verleger Jochen Gelberg sehr verbindet, beobachtet man, dass der Hausbuch-Gedanke zu neuen Ehren kommt, aber auch was anderes macht."
    Hans Joachim Gelberg gründete 1971 das Kinder- und Jugendbuchprogramm Beltz & Gelberg und förderte von Anfang an die damals jungen Autoren: Peter Härtling, Christine Nöstlinger, Janosch, Klaus Kordon und viele viele andere. Er gab ihren Texten ein Forum in seinem Magazin "Der bunte Hund", in seinen Jahrbüchern für Kinderliteratur und in seinen Anthologien. An Hans-Joachim Gelberg kommt eigentlich keine Sammlung aktueller Kinderlyrik vorbei. Wenn im Gerstenberg-Band "Dunkel war’s, der Mond schien helle" Gedichte aus vielen Gelberg-Publikationen nachgedruckt sind, so aus zwei Gründen: Als Verneigung vor dem großen alten Herrn der großen jungen Kinderlyrik. Und als Anerkennung eines Standards, hinter den man heute eigentlich nicht mehr zurückfallen sollte.
    Christine Nöstlinger: Meine Mutter
    Irren ist menschlich, sagt meine Mutter.
    Meine Mutter irrt schon
    seit langer Zeit und sehr oft.
    Darum ist sie besonders menschlich.
    Viel menschlicher als ich,
    der ich durch meine kurze Lebenszeit
    noch nicht so viel Gelegenheit
    zu Irren hatte.
    Wie hier Altes und Neues, Ernst und Spaß hin und her schwingen, sich ergänzen oder anstacheln, das ist eine große Freude! Und wie Rotraud Susanne Berner mit ihren Illustrationen charmant Ähnliches trennt, Disparates zusammenbindet und jedem heiligen Ernst einen kleinen Spaß hinzufügt - das ist große kleine Kunst!
    "Der beste Tag aller Zeiten"
    Charlotte Mew: Ich liebte den Frühling
    Ich liebte den Frühling im letzten Jahr.
    denn du warst da.
    Die Amseln sangen im Hain;
    du fandest ihr Zwitschern wunderbar -
    und mein Herz war dein.
    In diesem Jahr denk ich nicht an dich,
    Weil du nicht bei mir bist.
    Genau wie die Amseln freue ich mich
    einfach, weil Frühling ist.
    Charlotte Mew ist eine von circa 80 Lyrikern, die Susan Kreller in dem Gedichtband "Der beste Tag aller Zeiten" zusammengestellt hat. "Weitgereiste Gedichte" heißt das Buch im Untertitel. Zu Recht, kommen die Autorinnen und Autoren doch aus allen englischsprachigen Ländern bis hin nach Afrika und Neuseeland. Doch die Herausgeberin Susan Kreller kennt sich aus: mit englischer Lyrik und mit Übersetzungen. Und nachdem englische Kindergedichte kaum ins Deutsche übertragen werden - Klassiker wie Carroll, Cummings oder Stevenson bilden da die berühmte Ausnahme - feiern fast alle Gedichte dieser Anthologie Premiere im deutschsprachigen Raum. Henning Ahrens und Claas Kazzer haben sich auf das Wagnis der Nachdichtung eingelassen. Ihre Arbeit kann man an den hinten nachgedruckten Originaltexten überprüfen:
    Eine Bootstour durch das Nun-Curir-Tal nahe Queenstown, Neuseeland
    Auch Autoren aus Neuseeland kommen in dem Buch vor. (AP Archiv)
    Kit Wright: Me
    My Mom is on a diet,
    My Dad is on a booze,
    My Gran’s out playing Bingo
    And she was born to lose.
    Kit Wright: Ich
    MeinPapa hängt an der Flasche,
    meine Mama ist viel zu dick,
    meine Oma spielt wieder mal Bingo,
    nur hat sie leider nie Glück.
    Schon dieser eine Vers zeigt, mit welchem Geschick die Übersetzer arbeiten: Mom und Dad tauschen den Platz, damit es mit dem Reim funktioniert. Aus dem Verlieren der Großmutter wird umgedreht das Kein-Glück-haben. Aber der Schwung des Gedichts, seine Aussage: diese Addition peinlicher Verwandten, bleibt erhalten. Und endet mit einem Knall:
    Was für eine Versagerfamilie!
    Alles Nieten! Eins ist klar:
    Verglichen mit diesen Nullen bin ich
    ein echter Superstar.
    Auch in diesem großen, exquisit ausgestatteten Band findet man Ernstes neben Heiterem, Modernes neben Gedichten aus dem 19. Jahrhundert. Darunter nur wenige bekannte Namen. Susan Kreller, die über englische Lyrik promovierte, hat da einen Schatz gehoben. Eine Sammlung, die auf den ersten Blick nicht unbedingt kindgerecht ist, dafür umso nachhaltiger die Poesie und Bedeutung der Gedichte entfaltet.
    Als kreative Nachdichterin - oder besser: Neudichterin - tritt aber auch die bekannte Illustratorin Sabine Willharm auf. Sie hat den ganzen Band gestaltet hat. Wild und ungestüm stürmen und fliegen ihre Tiere und Figuren über die Seiten. So schnell und schwungvoll, dass man sie oft nur halb oder nur noch von hinten sieht. So nah am Surrealen, Frechen, Verrückten, dass Kinder wie Erwachsene voller Lust und Faszination einzelne Bilder betrachten werden. Summa summarum: Alles ist ungewöhnlich in diesem Hausbuch: das Konzept, die Texte, die Übertragungen, die Bilder. Ungewöhnlich gut!
    "Glücksvogel"
    Helga Wohlke: Vlücksgogel
    Kauchbribbeln
    Berzhobbern
    Warten auf das Belefontimmeln,
    das Kaustürlingeln
    auf greppentetrappel
    da höre ich dich kahrradflingeln
    bin ein Vlücksgogel
    "Glücksvogel" heißt Hans-Joachim Gelbergs vierte literarische Anthologie mit Geschichten, Gedichten und Bildern für Kinder und Erwachsene. Denn - so schreibt er im Vorwort:
    "Alle, Kinder und Erwachsene, sitzen im gleichen Lebensboot. Wer also für Kinder und von Kindern erzählt, sollte erwachsene Leser nicht ausklammern oder beiseite denken."
    Ringelnatz und Morgenstern, Erich Fried und Ernst Jandl haben es vorgemacht. Doch damit hängt die Latte hoch, und Hans-Joachim Gelberg ist mal wieder nicht bereit, darunter hindurchzulaufen - wie er in einer öffentlichen Veranstaltung erklärt.
    "Ja, das ist ja meine Spezialität, dass ich Gedichte nehme, die nicht für Kinder geschrieben sind. Das heißt, ich nehme auch Gedichte, die für Kinder geschrieben sind, aber in der Hauptsache nehme ich Gedichte. Diese Gedichte werden zu Kindergedichten in dem Moment, in dem ein Kind dies Gedicht liest."
    Was natürlich auch für Ludwig Harig gilt, Christoph Hein, Robert Gernhardt oder Rose Ausländer.
    Rose Ausländer: Deine Farbe
    Meine Farbe ist weiß
    sie hat alle Farben
    Schreib mir
    schreib deine Farbe
    Ich warte blau
    ich warte grün ich
    warte rot.
    "Ein Teil der Gedichte muss auch so sein, dass man sie nicht ganz versteht. Gute Gedichte haben eigentlich auch ein Geheimnis, ein Rätsel. Das Rätsel kann sich im Lauf längerer Zeit auflösen. Deswegen kann man sie ja wiederholt lesen. Aber ich finde es ganz wunderbar, wenn ein Gedicht, von einem Kind gelesen, nicht ganz verstanden wird. Wenn eine Zeile oder ein Vers hängen bleibt, weil es nicht ganz erklärbar ist."
    Hans-Joachim Gelbergs "Glücksvogel" bietet seinen Lesern allerdings nicht nur Lyrik an. Sondern auch eine Menge erzählender Texte von zum Teil jungen, auch unbekannten Autoren. Da ist er topaktuell! Dazu Bildergeschichten und Bilder bekannter Gegenwartsillustratoren. Antje Damm und Nikolaus Heidelbach, Axel Scheffler und Jutta Bauer, Rotraut Susanne Berner und Christine Brand geben sich ein buntes Stelldichein; mit Bildern, die sie zum Thema Glück und Liebe fast alle ganz eigenständig - völlig unabhängig von irgendeinem Text - geschaffen haben. Das heißt, hier kommt den Illustrationen ein echtes Eigenleben zu. Bilder und Texte, Farbe und Sprache stehen gleichberechtigt nebeneinander. Wieder eine junge, kreative, literarische Zusammenschau aus der Hand eines Großen der Kinderliteratur!
    "Folge Deinem Traum"
    Timo Párvela: Ein Traum von einer Klassenreise.
    Ich heiße Ella. Ich gehe in die zweite Klasse, und alle anderen in unserer Klasse gehen auch in die zweite Klasse. Unser Lehrer ist nett. Oder jedenfalls war er es früher. In letzter Zeit finden wir ihn nicht so nett, weil er mit uns keine Klassenreise in ein Land mit Palmen machen will. Dabei ist das unser großer Traum.
    "Folge Deinem Traum" heißt der Sammelband mit "Geschichten, Bildern, Gedichten für wache Kinder jeden Alters", den Michael Krüger im Hanser Verlag herausgegeben hat. Eine kinderliterarische Feier zum 20-jährigen Bestehen des Hanser Kinderbuchverlags und zugleich wohl auch ein Abschiedsgeschenk des scheidenden Herausgebers und Verlegers an sich selbst - wie man aus dem Vorwort heraushören kann.
    Viele Erstveröffentlichungen, relativ wenige Gedichte, viel Prosa, dazu Bildergeschichten und ganzseitige Bilder - das Konzept, die Optik und die Anmutung ist sehr ähnlich wie bei Gelbergs "Glücksvogel". So ähnlich, dass man meinen könnte, jener hätte mit seinen bekannten Sammlungen Pate gestanden. Beide Bücher sind auch kleiner, aber dicker als die drei anderen, vom Format her also mehr Lesebücher als Bilderbücher. Konzentrierte Gelberg sich auf das Glück, so steht hier der Traum im Zentrum von Texten und Bildern. Das heißt, viel Fantastisches, Surreales und Verrücktes von Künstlern und Autoren, die das Hanser-Kinderbuchprogramm in den vergangenen Jahren mitgestaltet haben. Auf der Illustratorenseite ist mit Nikolaus Heidelbach und Antje Damm, Ole Könnecke und Peter Schössow und, und, und die Haute Volée der aktuellen deutschen Kinderbuch-Illustration versammelt. Wobei - schon wegen der durchweg längeren Texte - die Illustrationen weitaus weniger Raum einnehmen.
    Der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami
    Der Autor Rafik Schami (Root Leeb)
    Per Olof Enquist: Der Mann im Boot

    Dies alles passierte in dem Sommer, als ich neun Jahre alt wurde. In dem Jahr wohnten wir alle am Bursee; er war groß, es gab kleine Inseln darin, und es war ein guter See. Durch den See floss ein Fluss.
    Auch die Autoren der Hanser-Anthologiestammenaus dem Who is Who der aktuellen Kinderliteraturszene. Timo Párvela und Jutta Richter, Mats Wahl und Elke Heidenreich, Rafik Schami und Anu Stohner - die Liste ließe sich nicht endlos, aber doch deutlich verlängern. Und: es sind - neben Per Olof Enquist - einige Autoren dabei, die vor allem für Erwachsene schreiben. Wie die Typografie signalisiert diese Auswahl: "Folge deinem Traum" ist ein "All-Age-Buch" der anderen Art mit Texten eine vielseitige, langlebige, sehr schön gestaltete Sammlung für "wache Kinder jeden Alters".
    Ein Hauch von Biedermeier
    Fragt sich schließlich - um jetzt mal quer zu denken - wer, wann, wie und wo die hier vorgestellten Hausbücher nicht nur verschenken oder auf den berühmten "Coffeetable" legen, sondern wirklich lesen und betrachten wird. In der Idee des Hausbuchs schwinge doch auch immer noch etwas Biedermeierliches mit, meint Friedbert Stohner.
    "Die schöne alte Vorstellung, alle sitzen abends im Kreise, und dann liest der Papa was vor, vielleicht liest auch die Mama was vor, vielleicht trägt einer ein Gedicht vor, ich bin mir nicht sicher, dass das sehr viel Realitätsgehalt hat."
    Die Skepsis ist berechtigt! Aber: Hausbücher werden trotzdem gerne gekauft. Vielleicht auch darum, weil sie unseren Wunsch nach Gemeinsamkeit im Familienkreis ausdrücken. Der ist sicher ein Stück erinnerungsselig und sentimental, aber auch verständlich. Erst recht in der Weihnachtszeit!

    Zu guter Letzt und mit Genuss
    sag ich, was ich nun sagen muss:
    Jetzt ist Schluss!