Wissenschaftsjournalist Michael Stang hat sich auf die Suche nach dem Erbe unserer Vorfahren gemacht. Ein Feature über prähistorische Techtelmechtel, wacklige Theorien und genetische Tests, die zeigen, dass der Autor selbst noch Neandertalergene in sich trägt.
Manuskript: Alle meine Ahnen
Das Erbe der Frühmenschen in uns.
Gerd-Christian Weniger: "Das wissen wir aus unserer eigenen Erfahrung, Sex ist nun mal ein Klebemittel, das die Menschen enorm zusammenhält und das in der Lage ist, Kulturgrenzen problemlos zu überspringen. Und das werden Neandertaler genauso gemacht haben."
Die Geschichte des Menschen reicht rund sieben Millionen Jahre zurück. Ihre Entwicklung verlief nicht geradlinig. Zufall und Vermischung spielten eine große Rolle.
Gerd-Christian Weniger: "Man wird gewusst haben, dass es dort groß gewachsene Menschen gibt, die jenseits der nächsten Hügelkette oder Bergkette ihr Schweifgebiet haben und die man gelegentlich auch vielleicht trifft und mit denen man sich gegebenenfalls auch zusammensetzt, Dinge austauscht und vielleicht auch den einen oder anderen Geschlechtspartner in der anderen Gruppe sucht."
Sie trifft ihn, irgendwo im Mittleren Osten. Sie, schwarz und hochgewachsen, eine Frau, deren Gruppe erst vor Kurzem aus Afrika eingewandert ist. Eine Vertreterin des anatomisch modernen Menschen, Homo sapiens. Er, dessen Vorfahren seit vielen Zehntausend Jahren schon hier leben, gehört zu den bleichen, etwas gedrungenen Neandertalern. Sie verstehen sich auf Anhieb, trotz aller kulturellen Barrieren, und bekommen ein gesundes Kind, vielleicht auch mehrere.
Mehr als 200.000 Jahre lang hatte der Neandertaler in Eurasien gelebt, viele Jahrtausende davon gleichzeitig mit unseren direkten Vorfahren, dem Homo sapiens. Vor knapp 30.000 Jahren starb der Neandertaler aus, die Erinnerung verblasste. Bis 1856 Arbeiter im Neandertal bei Düsseldorf ein Skelett fanden, das unseren Vettern den Namen geben sollte. Seit dieser Zeit hat sich unser Weltbild grundlegend geändert, sagt der Direktor des Neandertal Museums, Gerd-Christian Weniger:
"Wir sehen ganz deutlich, dass der Neandertaler dieses Image eines tumben Toren, der durch die Welt läuft und nicht weiß, was ihm geschieht, längst abgelegt hat, und dass er als erfahrender, kluger Eiszeitjäger gilt, inzwischen, der es verstanden hat, sich hervorragend in seine Umwelt einzupassen, der technologische Innovationen eingeführt hat und der es überhaupt als erster Mensch geschafft hat, sich in den winterkalten Klimagebieten Mittel-, West und Osteuropas festzusetzen. Es sind viele, viele Puzzlesteine, die sich zu einem Bild nun zusammensetzen, das den Neandertaler neu darstellt."
Bis heute wurden Hunderte von Neandertalerskeletten gefunden. Forscher wissen mittlerweile viel über die Kultur dieser Menschenform, die Werkzeuge und Schmuck herstellte, ihre Toten in Blütengräbern bestattete und das Feuer beherrschte. Seit erste Analysen ihres Erbguts vorliegen, ist auch klar: Die Neandertaler gründeten mit Vertretern der anatomisch modernen Menschen Familien. Dieser simplen Erkenntnis hatten sich ganze Forschergenerationen verweigert. Gerd-Christian Weniger:
"Was wir über ethnohistorische Jäger und Sammler wissen, ist einfach, dass Jäger und Sammler darauf angewiesen sind, mit anderen Gruppen Kontakt zu halten, da es sich ja um sehr kleine Gruppen handelt, dass ich mir Geschlechtspartner in anderen Gruppen suchen muss."
Die DNA-Untersuchungen brachten erste Erkenntnisse, doch die Aussagekraft war gering. Nur noch wenig Erbgut konnten Genetiker anfangs aus den Funden gewinnen. Doch dann, im Jahr 2010, entdeckten russische Archäologen in der Denisova-Höhle im sibirischen Altaigebirge einen Zehenknochen. Der Genetiker Kay Prüfer untersuchte ihn am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und extrahierte aus dem alten Knochen DNA:
"Die Knochen, die wir in dieser Höhle gefunden haben, hatten - im Gegensatz zu anderen Neandertalern, die wir uns bis jetzt angeschaut haben – eine große, große Anzahl an Fragmenten, die tatsächlich von dem Individuum stammen, von dem der Knochen ist."
Die Lagerungsbedingungen in der Höhle waren ideal, sodass Kay Prüfer ungewöhnlich viel altes Erbmaterial unseres ausgestorbenen Vetters untersuchen konnte. Prüfer:
"Der Fußknochen enthielt 70 Prozent DNA, die tatsächlich von einem Neandertaler war, und mit so einem Knochen und mit so wahnsinnig vielen Fragmenten, die tatsächlich von einem Neandertaler stammen, war es uns dann möglich, das viel tiefer zu sequenzieren."
Das Genom der Neandertaler umfasst drei Milliarden Basenpaare, also drei Milliarden DNA-Bausteine. Die zuvor veröffentlichten Daten verblassen geradezu gegen den neuen Fund aus dem Altaigebirge. Bislang war jede Stelle im Erbgut durchschnittlich 1,3 Mal abgedeckt, die Wahrscheinlichkeit, dass viele Stellen nicht exakt bestimmt werden konnten, war entsprechend hoch. Dies sei nun Geschichte, sagt Kay Prüfer:
"Wir haben das dann geschafft, dass wir quasi an jeder Stelle im Genom im Durchschnitt 50 Fragmente haben, die diese Stelle überlappen."
Gerade erst hat das Fachmagazin "Nature" das vollständig entschlüsselte Genom dieses Neandertalers veröffentlicht. Svante Pääbo, Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts, gerät ins Schwärmen: "Jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir ein Neandertalergenom haben, das genauso gut ist wie ein Genom, das sich von mir bestimmen lassen würde."
Der Weg ist frei, um die großen Fragen anzugehen. Wer waren die Neandertaler genetisch betrachtet? Und wie nahe sind sie wirklich mit uns heute lebenden Menschen verwandt?
"Ja, mein Name ist Michael Stang, ich bin Mitte 30 und, soweit mir bekannt ist, durch und durch Europäer."
In Köln lebt und arbeitet der Journalist Michael Stang. Sein Steckenpferd sind Frühmenschen.
"Meine Vorfahren kommen alle aus Europa, also müssen sie ja auch Neandertalererbgut in sich tragen, denn schließlich hat jeder Mensch außerhalb Afrikas noch Neandertalererbgutreste in seinen Zellen. Das schließt mich ein."
Im Internet stößt er auf einen Test, den seit Kurzem die US-amerikanische Firma 23andme anbietet. Eine Erbgutanalyse via Speichelprobe gegen Geld. Für 99 US-Dollar kann man seinen eigenen Neandertaleranteil ermitteln lassen.
Sie trifft ihn, in einer Höhle in Sibirien. Später wird man diesen Ort Denisova nennen. Lange haben hier nur Neandertaler gelebt, und er ist einer von ihnen. Doch irgendwann taucht eine neue Menschenart auf. Sie gehört zu den Einwanderern. Sie gefällt ihm, er gefällt ihr nicht. Dennoch bekommen sie gesunden Nachwuchs:
"Das war eine ziemliche Sensation vor einigen Jahren, weil bisher dachte man, dass Neandertaler hauptsächlich in Europa und vielleicht im westlichen Asien zu finden waren, aber nicht in Sibirien."
Johannes Krause erinnert sich an einen Wendepunkt in der Paläogenetik. Damals untersuchte er - noch am Leipziger Max-Planck-Institut unter Svante Pääbo - einen kleinen Fingerknochen, der ihm 2008 aus der noch wenig beachteten Denisova-Höhle im Altaigebirge geschickt worden war. Die genetische Untersuchung des winzigen Fingerknöchels sollte eigentlich die erste eines Neandertalers werden, den es bis nach Sibirien verschlagen hatte. Doch dann stellte sich heraus: Es war gar kein Neandertaler, sagt Krause:
"Mir war eigentlich gleich klar, dass es sich bei dieser DNA nicht um einen modernen Menschen handelt, aber auch nicht um einen Neandertaler, weil sie zu unterschiedlich war von Mensch und Neandertaler."
Vor Johannes Krause lag die genetische Sequenz eines Frühmenschen. Außer einem Knöchelchen war von ihm nicht viel bekannt.
"In diesem Moment wurde mir im Prinzip schon klar, dass es sich dabei um einen neuen Zweig in der menschlichen Evolution handelt, den wir das erste Mal hier genetisch sehen. Wir haben uns dann mit dem Genom drauf geeinigt, dass wir das Ganze Denisova-Mensch nennen."
Aber wer war der Denisova-Mensch?
Mittlerweile wurden einige Zähne entdeckt, und die sind viel größer als die der Neandertaler und der anatomisch modernen Menschen.
Auch der Denisova-Mensch hat sich mit unseren direkten Vorfahren vermischt, im Erbgut mancher heute lebender Menschen finden sich seine Spuren.
Aber das war es auch schon mit den Erkenntnissen, erklärt Johannes Krause.
"Wir wissen tatsächlich sehr wenig. Wir können zumindest sagen, dass sie vor 50 bis 60.000 Jahren noch im Altai existiert haben, das heißt, sie müssen zur Eiszeit gelebt haben. Sie waren sicherlich Jäger und Sammler, ähnlich wie die Neandertaler angepasst an einen Lebensraum mit extremen Witterungsbedingungen mit einer Durchschnittstemperatur, die unter dem Gefrierpunkt liegt. Wir wissen auch, dass sie Steinwerkzeuge angefertigt haben, ähnlich wie die Neandertaler, dass sie sicherlich auch Großwildjäger waren, die Mammut, Nashorn, Bison und verschiedene andere Tiere wahrscheinlich gejagt haben."
In den vergangenen Jahrzehnten wurden überall auf der Welt Frühmenschenknochen ausgegraben und zum Teil neuen Menschenarten zugeordnet. Die Analysemethoden haben sich erheblich verbessert. Zudem ergänzen genetische Daten das Bild aus der Frühzeit des Menschen. Doch statt das Puzzle Stück für Stück zu vervollständigen, verkompliziert fast jede neue Erkenntnis die Geschichte der Menschwerdung. Die Paläoanthropologie habe im Prinzip ein Luxusproblem, meint der US-Amerikaner John Hawks von der Universität von Wisconsin in Madison:
"Es geht nicht mehr nur um eine Auswanderungswelle unserer Vorfahren aus Afrika, sondern auch um eine zweite, eine dritte, bei der es zu Vermischungen kam, dann eine vierte. Im Genom bei heutigen Menschen in Australien, Papua Neuguinea und Melanesien finden wir diese Spuren. Wir reden hier von insgesamt fünf verschiedenen Begebenheiten."
John Hawks versucht, die Erkenntnisse aus der Paläoanthropologie mit denen aus der Genetik zu verknüpfen. Die Anatomie der Knochen, die Funde aus den Grabungsstätten, Gensequenzen, Datierungen - all das zusammen muss ein stimmiges Bild ergeben. Doch davon ist der Forscher weit entfernt:
"Menschen wollen eine einfache Geschichte hören, sie wollen eine klare Antwort bekommen, etwa dass die Menschen von dort hierher kamen und nur diese gehören zu unseren Vorfahren. Aber das einzige, was wir aktuell wissen ist: So einfach war die Geschichte nicht."
Die Denisova-Höhle im sibirischen Altaigebirge war wohl eine Art Schmelztiegel der Menschheit. Ihr könnte bei der schwierigen Ahnenforschung eine Schlüsselrolle zukommen, vermutet Svante Pääbo:
"Irgendwann haben Neandertaler in der Höhle gelebt, später dann Denisova-Menschen und später moderne Menschen natürlich. So wenn man so will, ist das ein einzigartiger Platz in der Welt."
Die Höhle beherbergt Knochen, die ein völlig neues Licht auf unsere Geschichte werfen. Und hier gehe es nicht nur darum, welche Menschenformen einst gelebt haben, sagt Svante Pääbo. Vielmehr gehe es nun darum, anhand der Unterschiede unsere Identität, das heutige Menschsein sozusagen, genetisch zu verstehen.
"Erstens können wir jetzt jede Position im Genom uns anschauen. Also wir können eine definitive Liste machen von Veränderungen, Mutationen im Genom, die alle modernen Menschen tragen, wo aber die Neandertaler und der Denisova-Mensch wie die Affen aussehen. Wir können also, wenn man so will, ein komplettes genetisches Rezept, um ein moderner Mensch zu sein, feststellen."
Gen-Test im Briefkasten
Michael Stang: "Das Testset von 23andme ist angekommen, und zwar soll damit nachgewiesen werden, wie viel Neandertalergene man in mir noch nachweisen kann. Dann packen wir das mal aus."
Zwei Wochen später erreicht Michael Stang ein großer Briefumschlag. Er muss sich zunächst online registrieren, dann kann der eigentliche Test beginnen.
"So, okay, jetzt geht‘s an die Probenentnahme, so, es ist ein Stäbchen. Da muss ich jetzt hier reinspucken, also eine Röhre, da muss man schon ordentlich spucken. Man darf eine halbe Stunde vorher nichts trinken, man darf nicht rauchen, man darf keinen Kaugummi kauen. Man darf nichts Sonstiges gegessen haben, dass wirklich die Spucke hoch konzentriert ist, das heißt, es geht ja darum, dass möglichst viele Hautschuppen, viele Zellen von mir im Speichel enthalten sind, an denen sich dann genug DNA findet, die für die Untersuchung vonnöten ist. - Also, da spucke ich mal da rein."
Das dauert ein paar Minuten, dann wird alles ordentlich verpackt und geht per Post zurück nach Kalifornien.
Außerhalb Afrikas soll der durchschnittliche Neandertaleranteil im Erbgut heutiger Menschen 2,7 Prozent betragen, schreibt das Unternehmen auf seiner Homepage. Kay Prüfer, der das gerade veröffentlichte Neandertalergenom aus Sibirien mit höchster Präzision sequenziert hat, rechnet vor, wie 23andme zu seinen Ergebnissen kommt:
"Also, die Zeit, wo die sich gemixt haben, das war quasi, als Menschen aus Afrika rausgegangen sind, und das liegt in der Zeit zu weit zurück, als dass jetzt jeder eine wahnsinnige Anzahl von DNA-Schnipseln haben kann, die vom Neandertaler stammen. Also es ist relativ, es hat sich quasi dann durchmischt, und jetzt hat ungefähr jeder dieselbe Prozentzahl, so muss man sich das vorstellen."
Eine Studie der Leipziger Paläogenetiker beziffert den Anteil mit gerade einmal zwei Prozent. Das US-Unternehmen macht jedoch eine andere Rechnung auf:
"Die trennen nicht. Neandertaler und Denisova-Menschen sind ja miteinander verwandt. Und ich habe das Gefühl, wenn ich es anschaue, die Ergebnisse, dass die vermischen das, die können nicht richtig trennen, Neandertaler von Denisova-Menschen-Beitrag."
Alles, was nicht dem anatomisch modernen Menschen zugeordnet werden kann, wird großzügig als Neandertalererbgut deklariert. So kommt 23andme zum Teil auf überhöhte Prozentzahlen bei seinen Kunden. Aber das seien letztendlich wissenschaftliche Scharmützel, sagt Svante Pääbo. Für Privatpersonen, die sich testen lassen, seien eh ganz andere Fragen wichtig. Was bedeutet es, wenn man nachweislich den einen oder anderen Neandertaler in der weit entfernten Verwandtschaft hat? Pääbo:
"Ja, da würde ich sagen, da kann jeder darüber denken, wie er will, natürlich. Ich sage oft: Das sagt mehr über unsere Einstellung zum Leben und andere Menschen aus, wie wir darüber denken und spekulieren, als was tatsächlich passiert ist damals. Aber an und für sich finde ich es natürlich nicht sehr überraschend, dass man auch sich mischt, wenn man sich trifft."
Ein wenig anders argumentiert Johannes Krause, mittlerweile Professor an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Wenn Neandertaler und moderne Menschen gesunden Nachwuchs bekommen haben, weshalb haben sich dann vor allem die Erbgutvarianten des modernen Menschen durchgesetzt? Krause:
"Man muss sich natürlich fragen, wenn sie sich miteinander fortpflanzen konnten, warum nur so selten? Warum sind nur 2,5 Prozent Neandertaler-DNA in heutigen Nicht-Afrikanern, warum nicht mehr? Warum gibt es nicht mehr Vermischungen in Europa als in Asien oder Australien?"
Sie trifft ihn, irgendwo in Ostasien. Er kommt vom Meer, aus Ländern, die später einmal als Ozeanien bezeichnet werden. Sie findet ihn attraktiv, obwohl sie sehr unterschiedlich sind. Er lässt sich überreden. Sie erwartet bald darauf ein Kind von ihm, aber sie wird den Nachwuchs ohne ihn großziehen. Vielleicht waren die kulturellen Unterschiede doch zu groß.
Das Neandertaler-Erbe im modernen Menschen
Einige alte Erbgutvarianten haben bis heute überlebt. Wenn diese Erbgutstücke sich so lange in unserem Genom halten konnten, boten sie vermutlich Vorteile. Nicht nur die Mischlingskinder müssen kurzfristig profitiert haben, sondern auch deren Nachwuchs, über viele Tausend Generationen hinweg. Der US-amerikanische Forscher John Hawks durchforstet daher unser heutiges Erbgut und sucht dort nach der Bedeutung der alten Einsprengseln. Er fahndet nach Spuren von Neandertalern und Denisova-Mensch, denn auch sie stecken noch in uns.
"Die Genomdaten geben Hinweise, wie sich das Erbgut unserer Vorfahren verändert hat, etwa wie es zur Aufhellung der Haut, also zu einer verminderten Pigmentierung kam. Wir stehen aber erst am Anfang. Noch können wir nicht einzelne Kandidatengene nehmen und schauen, ob sie etwa die Veränderungen im Skelett bedingen."
Hawks legt die Genome übereinander. Einige Bereiche hat er schon ins Auge gefasst.
"Wenn ich mir einige Gene anschaue, die für das Immunsystem wichtig sind, dann finden wir vielleicht neue Antworten, auch wenn das alles sehr kompliziert wird. Schließlich geht es hier um Vermischungen dreier Menschen: moderne Menschen, Neandertaler und Denisova-Menschen. Alle haben ihre Gene ausgetauscht. Und diese haben dem Nachwuchs einen gewissen Vorteil verschafft. Wir gehen davon aus, dass das vor allem jene Gene betrifft, die für die Körperabwehr zuständig sind."
Auch Svante Pääbo vermutet, dass sich das Neandertaler-Erbe vor allem bei der Abwehr von Infekten hervortut. Und das sei auch nur logisch:
"Das könnte sein, dass die Neandertaler ja angepasst waren seit Hunderten, Tausenden von Jahren an die Umwelt in Eurasien und dass deshalb sozusagen der moderne Mensch da Varianten bekommen hat, die dann auch positiv selektiert wurden."
Denn die anatomisch modernen Menschen stießen in Gebiete vor, in denen ihr Immunsystem plötzlich mit neuen Krankheitserregern konfrontiert wurde. Neandertaler und Denisova-Menschen dagegen waren schon immun.
"Interessanterweise gibt es auch große Bereiche im Genom, wo wir überhaupt nichts finden. Das heißt, es gibt Bereiche, wo wir als moderne Population sozusagen nicht einen Neandertalerbeitrag akzeptiert haben."
Diese Bereiche, so Svante Pääbo, könnten vielleicht besonders wichtig für die Gehirnentwicklung gewesen sein und genau jene Unterschiede betreffen, die uns zum modernen Menschen machten.
Das alte, qualitativ schlechte Neandertaler-Erbgut, mit dem die Vergleiche bisher stattfinden mussten, lieferte nur wenig belastbare Erkenntnisse. Doch demnächst können die Forscher auf das neue, solide Neandertaler-Genom zurückgreifen. Einige spannende Fragen könnten sich bald klären, erklärt Chris Stringer:
"Der Grund, weshalb sich aus unseren Vorfahren die anatomisch modernen Menschen entwickelt haben, ist nicht das Resultat eines geplanten Prozesses, sondern es ist das Ergebnis zahlreicher Zufälle, und alles zusammen hat uns zu etwas gemacht, was man sich am Beginn dieses Prozesses niemals hätte vorstellen können."
Chris Stringer leitet die Abteilung Paläoanthropologie des Naturhistorischen Museums in London. Er ist Begründer der Out-of-Africa-Theorie und forscht seit mehr als drei Jahrzehnten an der Entstehung und der Ausbreitung des modernen Menschen. Auch er musste in dieser Zeit immer wieder umdenken.
"Lange Zeit galt die Lehrmeinung, dass man die Menschwerdung als einfachen, geraden Weg beschreiben kann, dass wir also alle Fossilien in einer Linie von alt nach neu hinlegen können, und dann passt es. Aber Stück für Stück tasten wir uns nun an die tatsächliche Humanevolution heran, und die ist viel komplizierter, es ist eine Art Schlängelpfad."
Sie trifft ihn, irgendwo in – man weiß es nicht. Sie gehört zu den Denisova-Menschen, aber er ist – anders. Er entstammt einer alten Menschenfamilie. Ob spätere Generationen jemals von seiner Existenz erfahren werden, jenem vierten Menschen neben Homo sapiens, Neandertaler und Denisova, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen.
Klar ist nur: Auch diese Liaison kam zustande. Er zeugte mit ihr gesunden Nachwuchs.
Schwester Denisova
Kay Prüfer und seine Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sind in Sibirien nicht nur auf gut erhaltene Knochen gestoßen, sondern auch auf das nächste Rätsel. Eine Gleichung mit mindestens einem weiteren Unbekannten, im wahrsten Sinne des Wortes: Das Denisova-Erbgut zeigt im Vergleich mit dem Genom des Menschen und des Neandertalers eine Ungereimtheit.
"Wenn wir Neandertaler und Denisova vergleichen zum modernen Menschen, dann sieht einer ein bisschen unterschiedlicher aus, und das ist wirklich ein minimaler Effekt, das ist 0,2 Prozent, die der ein bisschen unterschiedlicher aussieht. Und das ist der Denisovaner. Der Denisovaner sieht ein bisschen entfernter aus, obwohl er mit dem Neandertaler zusammenfällt und mit dem Neandertaler am engsten verwandt ist."
Die Genetiker sprechen vom Denisova-Menschen und Neandertaler als Schwesterngruppen. Das bedeutet, dass beide zum modernen Menschen gleich weit entfernt sind, doch so ganz geht diese Rechnung nicht auf.
Prüfer: "Die beste Erklärung, die wir im Moment für die Beobachtung haben, ist, dass der Denisovaner eine zusätzliche alte Komponente hat. Es ist auch wieder wahrscheinlich eine kleine Prozentzahl vom Genom vom Denisovaner, die von diesem alten Menschen kommt, den wir nicht kennen, der allerdings weit entfernt sein muss, also vielleicht so was wie mindestens eine Million Jahre der gemeinsame Vorfahre gelebt hat zwischen jedem von den Dreien und diesem unbekannten Hominiden."
Vier Wochen nachdem das Erbgut von Michael Stang den Atlantik überquert hat, bekommt er elektronische Post:
"Meine DNA wurde sequenziert, das heißt, untersucht und analysiert, und das Ergebnis ist für mich jetzt online einsehbar, steht hier. So, dann mal einloggen und lesen."
Laut Testergebnis stammen 3,0 Prozent seines Erbguts vom Neandertaler.
"Drei von 100, die direkt auf den Neandertaler zurückgehen, der vor knapp 30.000 Jahren ausgestorben ist. - Laut Firmendatenbank liegt der Schnitt bei 2,7 Prozent, also liege ich knapp drüber."
Eine Zahl, nicht mehr und nicht weniger. Zuzüglich Portokosten hat Michael Stang 136 Euro 32 bezahlt. Dafür erhält er jetzt außerdem listenweise Prozentwerte zu seinen ganz persönlichen Krankheitsrisiken und einige weitere zu seiner genetischen Herkunft.
"Zu 99,9 Prozent bin ich Europäer, keine Überraschung also. Zu 55,8 Prozent Nordeuropäer. 5,3 Prozent Osteuropäer, dann 1,3 Prozent Südeuropäer und - aha 37,5, Prozent nicht-spezifischer Europäer."
Die Risikoaussagen zu möglichen Krankheiten werden mittlerweile von der zuständigen US-amerikanischen Behörde, der Food and Drug Administration, – heftig kritisiert, als "intransparent" und "nicht nachprüfbar".
"Ob das auch für mein Neandertalererbgut gilt, interessiert die FDA offenbar weniger."
Dass es noch Überreste aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte in uns gibt, ist im Lichte der Biologie betrachtet keine Überraschung, sagt der Mainzer Molekularbiologe Joachim Burger:
"Das ist etwa so bedeutend wie die Erkenntnis, dass wir vom Affen abstammen."
Außerdem dürfe man nicht außer Acht lassen, was sich im Erbgut eines Lebewesens überhaupt so alles finden lasse.
"Also der größte Teil des genetischen Prozesses ist stochastisch, also zufallsbedingt. Wir dürfen nicht denken, dass alles, was da ist in einem Genom, schlichtweg immer Sinn machen muss. Aber natürlich können ja auch Allele, also Merkmale aus dem Neandertaler, in den Menschen gelangt sein, die positiv selektioniert wurden, bislang wurden die aber nicht identifiziert."
Der anatomisch moderne Mensch hat, wie jeder Organismus, viele Verwandte und direkte Vorfahren. Dass sich heute noch Spuren dieses Erbes nachweisen lassen, ist ein Verdienst moderner Techniken, die völlig neue Einblicke in das Innere des Menschseins ermöglichen. Für jeden Einzelnen haben diese Erkenntnisse jedoch nur eine geringe Aussagekraft.
"Letztendlich bedeutet das, dass wir einen der vielen Vorfahren, die der Mensch in sich tragen muss, nun mit einem Namen belegen können. Das menschliche Genom ist ein Mosaik, ein Mosaik aus sehr vielen verschiedenen Vorfahren, viele davon haben möglicherweise gar keinen Namen, einer davon ist nun, wie festgestellt wird, der Neandertaler, bedeutet aber für Sie als Individuum einfach nur: Weiterleben und sich nichts draus machen!"