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Anti-Oper in Berlin

Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakow hatte im Winter 2005 an der Staatsoper Unter den Linden eine viel beachtete Inszenierung von Mussorgskis Boris Godunow abgeliefert. Nun hat er sich an ein schwieriges, selten gespieltes musiktheatralisches Werk gewagt: Sergej Prokofjews Oper "Der Spieler", nach dem autobiographisch inspirierten Roman von Fjodor Dostojewski. Prokofjew hat eine Art "Anti-Oper" daraus gemacht.

Von Georg-Friedrich Kühn |
    Alles wartet: auf die Nachricht vom Ableben einer vermögenden Alten. Es gilt zu erben, Schulden zu tilgen. Eine verschworene Gesellschaft von Spielern, Spekulanten sitzt da auf der Bühne in dicken Fauteuils in einem blauen, verspiegelten Salon mit Bar-Tresen:

    Der General, der schon sein ganzes Geld verspielt hat und mit jungen Frauen flirtet. Sein Freund, der Marquis, der ihm immer mal wieder ausgeholfen hat und von seiner Stieftochter Polina umschwärmt wird. Alexej, der Hauslehrer, der in Polinas Auftrag eine Summe am Spieltisch verzockt hat, und in sie verliebt ist.

    Sergej Prokofjew komponierte seine "Spieler"-Oper nach dem Roman von Dostojewski zwischen 1915 und 1917. Obwohl mit dem Studium fertig, hatte er sich noch mal am Petersburger Konservatorium eingeschrieben, um dem Militär zu entkommen.

    Die Pläne für eine Uraufführung seiner ersten großen Oper mit Wsewolod Meyerhold als Regisseur zerschlugen sich durch die Revolution. Das Mariinski-Theater kam unter künstlerische Selbstverwaltung; und die strich das sperrige Stück vom Plan.

    Prokofjew versucht in dieser Partitur einen an Mussorgski orientierten, harmonisch geschärften Deklamationsstil. Er verzichtet weitgehend auf melodische Strukturen, konstruiert ein musikalisches Feld aus Klangfarben und rhythmischen Mustern.

    Und die Leuchtkraft dieser Partitur plastisch zu vergegenwärtigen gelingt Daniel Barenboim am Pult mit der Staatskapelle Berlin und der großen Zahl von Solisten mustergültig. Überragend Misha Didyk mit einem kraftvoll strahlenden Tenor als Alexej und Kristine Opolais als Generalstochter Polina.

    Der junge russische Regisseur und Ausstatter Dmitri Tcherniakow akzentuiert in seiner szenischen Einrichtung das filmische Moment in Prokofjews Partitur. Auf einen Bühnenwagen hat er ein wie ein Filmstreifen verschiebbares Bühnenbild bauen lassen mit einer großen Halle in der Mitte und kleineren Räumen an beiden Seiten.

    Beschränkt Tcherniakow sich in seiner Personenregie in den beiden ersten Akten auf zweidimensionale Bewegungsmuster entlang der Rampe, kommt mit dem Auftritt der von ihrer Krankheit genesenen Alten, der Babulen'ka, auch die dritte Dimension mehr ins Spiel.

    Die Alte entdeckt nun auch ihre Lust am Roulette, verspielt ihr ganzes Vermögen. Den großen Katzenjammer nutzt Alexej. Tollkühn mit neuem Einsatz sprengt er die Bank, um mit dem gewonnen Geld Polina endlich für sich zu gewinnen.
    Man sitzt lange etwas ratlos vor dieser Oper, die über weite Strecken als endloses Konversationsstück daher kommt und am Ende eine Moral präsentiert, die so neu nicht ist: die Frage, wie viel Macht der Mensch hat über sein Schicksal. Regisseur Tcherniakow beantwortet sie mit seiner Dolmetscherin so:

    "Eigentlich - der Mensch hat keine Macht über sein Schicksal. Überhaupt nicht. Wir kennen uns nicht, wir wissen nicht, welche Abgründe in uns sind."

    Die Oster-Festtage der Berliner Staatsoper hatten mit dieser Prokofjew-Premiere zwar einen höchst eindrucksvollen, vom Publikum heftig akklamierten Auftakt. Ob der "Spieler" fürs Repertoire heute zurückgewonnen werden kann, steht dahin.

    Zum einen ist es ein sehr personenreiches Stück, das einen aufwendigen Apparat erfordert. Zum anderen werden große Vermögen heute nicht mehr am Roulette-Tisch sondern in Hinterzimmern von Banken und an Computern verzockt. Sehr viel unauffälliger, unsichtbarer, wenn auch nicht weniger schmerzhaft.