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Antike Mythen und karibische Identität

Der Dichter Derek Walcott greift in dem Stück "Eine Antillen-Odysse" die Verbindungslinie zwischen antiken Mythen und karibischer Identität immer wieder auf. Odysseus wird dabei aus dem abstrakten Mythos zurückgeholt in eine menschliche, eine sinnliche Dimension.

Von Gregor Ziolkowski |
    Derek Walcott: "Das kommt, weil ich auf einer Insel lebe, inmitten eines Archipels. Jeden Tag, wenn ich aus meinem Haus schaue, sehe ich Segel vorbeiziehen und Fischer ihre Arbeit tun. Ich habe einen sehr starken Sinn für das Meer. Und man findet bei keinem anderen Autor einen stärkeren Sinn für das Meer als bei Homer. Ich kann gern etwas angeben und Ihnen eine intellektuellere Erklärung liefern: Es gibt drei emblematische Figuren, an denen man nicht vorbeikommt, weil sie für die Karibik überaus wichtig sind. Einer ist Adam, weil die Karibik eine Neue Welt, ein neues Paradies gewesen ist. Und jeder Mensch aus der Alten Welt musste diese Neue Welt entdecken wie einst Adam. Die zweite Figur ist Robinson Crusoe, weil er nach einem Schiffbruch eine ganze Kultur wiedererschaffen musste und dabei einen Eingeborenen als Assistenten brauchte. Aber die hinreissendste Figur und wohl eine der bezauberndsten Gestalten der Weltliteratur überhaupt ist Odysseus. Weil: Odysseus, das ist Spaß. Er ist ein Spaßvogel, ein Betrüger, ein Schwindler - einer wie wir."

    Und steckt nicht im Motiv des Umherreisenden - wenn nicht - irrenden - auch etwas von diesem Autor selbst, der von einer Antillen-Insel zur nächsten reiste, von Kontinent zu Kontinent, nicht nur Gedichte schreibend und Literatur lehrend, sondern immer auch als Theaterautor und Regisseur? Jamaika und Trinidad, die USA, Kanada und mehrere europäische Städte waren Stationen auf diesen Ausfahrten. Auf die Frage freilich, ob er seine eigene Geschichte in diese Antillen-Odyssee eingeschrieben habe, winkt Walcott nur ab.

    Walcott: "Ich glaube nicht, dass es im Stück eine Figur gibt, die so arrogant und langweilig wäre wie ich. Welche Figur ich sein könnte, kann ich wirklich nicht sagen."

    Walcott erzählt und inszeniert seine Odyssee nicht als schwermütiges Gleichnis, sondern als Geschichte einer lustvollen Welterfahrung. Homers Episoden zitiert er getreulich, setzt aber häufig eigenwillige und aktuelle Akzente. Wenn etwa Polyphem, der einäugige Zyklop, Züge eines lateinamerikanischen Diktators aufweist und über das Ende der großen Ideen in dieser Welt räsoniert, während er genüsslich einen Menschen verspeist, dann ist das eine der effektvollen Anverwandlungen, die Walcott unternimmt.

    Odysseus - gespielt vom spanischen Schauspieler Antonio Valero - erscheint weniger als mythischer Held, vielmehr wie ein plebejischer Dienstreisender, dem sein eigentlicher Auftrag immer mehr aus dem Bewusstsein geraten ist und der das Schicksal seiner langen Heimfahrt ganz auf sich gestellt bewältigen muss. Er will nach Hause, weil dort eine Familie auf ihn wartet, und alle Hindernisse, die ihn dabei aufhalten, sind die Abenteuer, die das Leben nun mal bereithält.

    Walcott:" Er ist ein Held, der aus dem Volk stammt. Ich glaube, diese Geschichte speist sich aus einer Erfahrung, die direkt aus dem Volk kommt, ähnlich wie bei anderen Figuren der Literatur: Don Juan oder Prometheus. Was wir in der Karibik an Odysseus so genau wieder erkennen, ist - wie bei Don Juan - die Selbstironie, die Fähigkeit, das Leben zu genießen, auch inmitten einer großen Verzweiflung."

    Spielfreude - nicht zuletzt die musikalische der karibischen steelband, die auf der Bühne die Songs des Spektakels intoniert - bestimmt diese Inszenierung. Odysseus' Reise verläuft auf einem quadratischen Bühnenaufbau, in dessen Mitte ein einfaches aufragendes Stahlgebilde sowohl den Schiffsmast als auch das Dach von Odysseus' Haus in Ithaka symbolisiert. Hinzu kommen sparsamste Requisiten - einfacher geht es kaum, und den Rest besorgen das Licht und die traumhafte Kulisse des Amphitheaters von Mérida.

    Walcott hat mit einer Truppe von zwei Dutzend Schauspielern gearbeitet, die aus der Karibik, aus Spanien und aus Italien kommen. Englisch, Spanisch und Italienisch sind die Sprachen des Spektakels, hinzu kommen Passagen in kreolischen Dialekten. Wie sich da Schwarz und Weiß, wie sich ein Stoff aus der griechischen Antike in einem römischen Amphitheater in einer karibischen Adaptation mischen, das macht den großen Reiz dieses Abends aus: es ist die Zelebration einer großen kulturellen Begegnung.