Freitag, 29. März 2024

Archiv

Antivirale Grippemedikamente
Milliardenanschaffungen im Zwielicht

Medizin. - Als 2006 die Vogelgrippe und ein Jahr später die Schweinegrippe in pandemischen Ausmaßen zu drohen schienen, wurden weltweit große Vorräte von antiviralen Medikamenten angelegt, vor allem von den Präparaten Tamiflu und Relenza. Eine umfassende Studie hat jetzt gezeigt, dass diese Milliardeninvestitionen umsonst waren.

Von Marieke Degen; Interview von Arndt Reuning mit Jörg Meerpohl, Deutsches Cochrane-Zentrum | 10.04.2014
    Ein Mitglied der Hongkou District Center for Disease Control & Prevention hat einen Beutel mit Proben des Vogelgrippevirus H7N9 in der Hand
    Als Helfer bei Vogelgrippe-Pandemien sind Tamiflu und Relenza in Zweifel geraten. (dpa / Shen Chunchen)
    Das Grippemittel Tamiflu kann die Dauer der Grippe um einen Tag verkürzen. Mehr kann es nicht. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler des Cochrane-Netzwerks, nachdem sie Studien der Herstellerfirma Roche neu ausgewertet haben. Erst nach jahrelangem Streit hatte Roche alle Daten herausgerückt.
    Wie die Cochrane-Forscher also berichten, reduziert Tamiflu die Krankheitsdauer um einen Tag, von sieben auf sechs Tage. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Tamiflu schwere Komplikationen wie eine Lungenentzündung vermeiden kann oder dass weniger Patienten ins Krankenhaus müssen. Dafür treten öfter Nebenwirkungen auf, von Übelkeit und Kopfschmerzen bis hin zu psychiatrischen Erkrankungen. Manche Menschen, die Tamiflu vorbeugend einnahmen, hatten zwar keine Grippesymptome, konnten die Viren aber offenbar doch weiterverbreiten. Ähnlich schwach hat ein zweites Grippemittel abgeschnitten: Relenza von GlaxoSmithKline.
    Die Gesundheitsbehörden sind in der Bredouille. Diverse Länder haben für viel Geld Tamiflu gekauft und gehortet – auch Deutschland – um im Fall einer Pandemie gerüstet zu sein. Wenn ein neues Grippevirus auftaucht, gibt es erst einmal keine Impfstoffe, aber mit dem Grippemedikament kann man die Kranken wenigstens behandeln, so das Argument. Der Hersteller Roche soll daran Milliarden von Euro verdient haben. Die Cochrane-Autoren bezweifeln, dass die Bevorratung und der Einsatz von Tamiflu sinnvoll sind. Roche widerspricht der Cochrane-Analyse: Tamiflu, so die Firma, sei ein wirksames Arzneimittel zur Behandlung von Influenza.
    Das sehen viele Grippeforscher ähnlich. Bei der Schweinegrippe-Pandemie 2009 soll Tamiflu gute Dienste geleistet haben. Zumindest haben Beobachtungsstudien gezeigt, dass das Mittel schwere Verläufe verhindert hat. Tamiflu sei zwar kein Wundermittel, sagt auch Aaron Hurt vom WHO-Kollaborationszentrum für Influenza in Melbourne, aber:
    "...ich denke, es gibt genug Daten, die zeigen, dass Tamiflu den Krankheitsverlauf bei bestimmten Patienten verbessert."
    Auch bei der aktuellen Vogelgrippe-Epidemie in China kommt Tamiflu zum Einsatz. Der Vogelgrippe-Erreger H7N9 ist sehr aggressiv, rund ein Viertel der Infizierten sterben. Robert Webster, einer der weltweit führenden Grippeforscher sagte dazu:
    "Die Grippemittel sind wirklich sehr wirksam, aber man muss sie in den ersten 48 Stunden nach der Infektion geben."
    Tamiflu – für manche Patienten doch die letzte Rettung? Oder – wie es die Süddeutsche und die FAZ heute formulieren - einer der größten Medizinskandale der letzten Jahre?
    Arndt Reuning: Herr Meerpohl, teilen Sie die Einschätzung ihrer Kollegen?
    Jörg Meerpohl, Deutsches Cochrane-Zentrum: Ja, also es ist sicher richtig, dass diese aktuellen Analysen zeigen, dass diese Medikamente, die Sie angesprochen haben, keine hohe Wirksamkeit haben. Und in der Vergangenheit war man davon ausgegangen, oder kam zu Schlussfolgerungen, dass eine gute Wirksamkeit gegeben ist. Und das hat sich jetzt in dieser Form, in der sehr detaillierten Analyse nicht bestätigt.
    Reuning: Das heißt, welche Schlussfolgerungen sind denn Ihrer Meinung nach daraus zu ziehen?
    Meerpohl: Nun, ich denke, dies ist ein erster Schritt, die Gesamtevidenz und die Übersichtsarbeit der Kollegen ist ja sehr, sehr sorgfältig und auf der Basis auch ausführlicherer Dokumente als der Publikationen, die man normalerweise verwendet, aufgearbeitet worden, und kommt eben zu einem Schluss und zeigt es ja auch mit sehr detaillierten Ergebnissen auf, dass die positiven Effekte gering sind, für manche der untersuchten Endpunkte gar nicht vorhanden sind und es auch Nebenwirkungen gibt. Und in Anbetracht dieser Daten sollten sicherlich Empfehlungen überdacht werden und gegebenenfalls noch angepasst werden.
    Reuning: Also Empfehlungen beispielsweise der WHO?
    Meerpohl: Ja, das gilt im Prinzip für, glaube ich, alle Organisationen, die dort eine Empfehlung in der Vergangenheit, basierend auch auf anderen Daten, ausgesprochen haben, dass hier ein "Nacharbeiten" vielleicht sinnvoll ist, und nicht nur vielleicht, sondern sicherlich sinnvoll ist, um dieser jetzt aktuell und vollständig vorliegenden Evidenz jetzt Rechnung zu tragen.
    Reuning: Sie haben es angesprochen: es handelt sich um eine Neuauswertung von Daten, die mehr Beobachtungen umfasst als je zuvor. Das schreiben die Autoren der Studie auch so. Wie kann das sein, dass das Ergebnis einer Studie doch deutlich von der Datenbasis abhängt?
    Meerpohl: In dieser speziellen Arbeit hatten die Kollegen jetzt Zugriff auf die vollständigen Studienberichte und nicht das, was man üblicherweise in der Publikation einer Fachzeitschrift findet. Und diese vollständigen Studienberichte sind sehr, sehr viel umfassender. Sie hatten auch Zugriff auf Studien, die eben gar nicht veröffentlichen waren, in der Vergangenheit, als solche in einer Fachzeitschrift. Und damit stand eine detailliertere und auch ausführlichere Studienbasis und vollständigere Studienbasis zur Verfügung. Und wenn die entsprechend ausgewertet wird, sind die Schlussfolgerungen beziehungsweise die Ergebnisse etwas anders als wenn man nur einen Teil der Studien betrachtet, wie das in der Vergangenheit erfolgt war.
    Reuning: Wenn man nun zu einer Neubewertung dieser Richtlinien kommt, heißt das auch, man sollte die Praxis überdenken, sich mit diesem Medikament zu bevorraten?
    Meerpohl: Ja, das, denke ich, ergibt sich logischerweise daraus, weil im Prinzip einfach, wie wir ja einleitend schon gesagt hatten, Effekte überschätzt wurden und auf dieser Basis ja sicherlich auch ein Überdenken von Empfehlungen zur Bevorratung sinnvoll ist.
    Reuning: Wie sieht das aber aus im Fall einer Epidemie, im Fall einer Pandemie. Ist denn da ein geringer Schutz nicht vielleicht immer noch besser als gar keiner, ganz besonders in solchen Situationen, wo ein Impfstoff einfach noch nicht zur Verfügung steht?
    Meerpohl: Doch, das will ich auch gar nicht ausschließen. Ich denke aber, dass dort, in den entsprechenden Gremien, wie auch in der Vergangenheit aufgrund dieser existierenden Datenbasis diese Empfehlungen diskutiert, überdacht und dann formuliert werden müssen. Und es wäre, glaube ich, jetzt nicht angebracht, von mir auf die Schnelle dort eine Empfehlung herauszugeben. Es ist ja durchaus auch vorstellbar, dass gewisse Untergruppen von Patienten vielleicht auch einen stärkeren Vorteil sein. Insofern, glaube ich, wäre es vorschnell, jetzt hier zu einer abschließenden Einschätzung zu kommen, was therapeutische Möglichkeiten oder Anwendungen angehen würde.
    Reuning: In die jüngste Studie sind solche Untersuchungen eingeflossen, die placebokontrolliert waren, und bei denen die Patienten zufällig auf Behandlungsgruppe und Kontrollgruppe verteilt worden sind. Es sind keine Beobachtungsstudien eingeflossen an einer ausreichend großen Bevölkerungsgruppe. Könnte solch eine Beobachtungsstudie das Bild nicht auch etwas ändern?
    Meerpohl: In diese aktuellen Arbeiten sind ja sehr viele Studien eingeflossen. Ich habe die Patientenzahlen, die insgesamt in diese Studie eingeschlossen waren, nicht im Kopf, aber das war nicht wenige. Natürlich ist es so, dass weitergehende Studien oder auch Studien eines anderen Designs gegebenenfalls abweichende Ergebnisse zeigen können. Trotzdem gilt aus gutem Grund, dass randomisierte Studien, die einfach am wenigsten anfällig für systematische Fehler und andere Probleme der Datenqualität sind, hier einen Standard darstellen bei der Einschätzung von Wirksamkeit. Und insofern, selbst wenn Beobachtungsstudien zu anderen Einschätzungen kommen würden, wäre man da relativ zurückhaltend und vorsichtig und müsste sehr sorgfältig diese Daten anschauen, ob das tatsächlich eine andere Schlussfolgerung gerechtfertigt.