Wenige Jahre nach der Eichmann-Entführung wählte der israelische Geheimdienst in ähnlicher Sache einen anderen Weg. Man setzte einen Agenten auf den lettischen "Henker von Riga" an, einen Mann, der im Ghetto von Riga für den Tod von über 30.000 Juden verantwortlich war und der sich nach dem Krieg nach Brasilien absetzen konnte. Der Geheimdienstmann, der seine Eltern in Auschwitz und Theresienstadt verloren hatte, lockte sein Opfer nach Montevideo und brachte es um. Unter einem Pseudonym hat der Agent "Anton Künzle" gemeinsam mit dem israelischen Journalisten Gad Shimron ein Buch über diese Aktion geschrieben.
Dem Mossad, einem der israelischen Geheimdienste, eilt seit je der Ruf voraus, die weltweit effektivste und schlagkräftigste Organisation ihrer Art zu sein. Mossad-Agenten, hervorragend ausgebildet und mit allen Wassern ihres Metiers gewaschen, haben seit Bestehen des Staates Israel die abenteuerlichsten Missionen ausgeführt, um die innere und äußere Sicherheit des allzeit bedrohten Israel zu gewährleisten. Ihnen gelang es auch Anfang der sechziger Jahre, den verschollen geglaubten Adolf Eichmann in Argentinien zu identifizieren und nach Israel zu entführen, wo er vor Gericht gestellt werden konnte und später hingerichtet wurde.
Hinter dem bis heute nicht gelüfteten Decknamen "Anton Künzle" verbirgt sich ein Agent des Mossad, der 1964 von der Führung der Organisation beauftragt wurde, sich dem in Brasilien unter seinem richtigen Namen lebenden Herbert Cukurs zu nähern und eine Verbindung zu ihm herzustellen, die es schließlich erlauben sollte, Cukurs ins benachbarte Ausland, nach Uruguay, zu locken, wo seine Hinrichtung geplant war. Mehr als dreißig Jahre nach dem Geschehen hat jetzt einer der Hauptbeteiligten, eben Anton Künzle, die Geschichte in allen Details veröffentlicht.
Herbert Cukurs war ein Lette, der nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in der besetzten lettischen Hauptstadt ein blutiges Regiment errichtete, das ihm den Titel des "Henkers von Riga" eintrug. Unter deutscher Oberaufsicht war Cukurs maßgeblich daran beteiligt, in Riga und Umgebung die so genannte "Endlösung der Judenfrage" auf den Weg zu bringen ? er trug am Ende die Verantwortung für die Ermordung von rund 30.000 Menschen. In dem Buch sind zahlreiche Aussagen von überlebenden Juden zu Protokoll gegeben, die nicht nur die von Cukurs geleiteten kaltblütigen Massenmordaktionen bezeugen, sondern auch seine außergewöhnliche Grausamkeit und Brutalität belegen, wenn er persönlich mordete. Für die sich abzeichnende Niederlage und den Rückzug der Wehrmacht aus der Sowjetunion hatte der "Henker von Riga" vorgesorgt:
"Zusätzlich zu Hab und Gut führte er auch eine eigene 'Lebensversicherung' mit sich: eine junge Jüdin, deren Leben er persönlich gerettet hatte. 'Ich wusste, dass er in der SS diente, aber niemals hatte ich gehört, dass er in die Schreckenstaten verwickelt war', bezeugte die junge Frau namens Myriam Kaicner 195o vor einer Untersuchungskommission im Auftrag jüdischer Organisationen in Brasilien."
Cukurs gelang es mit Hilfe dieser "Lebensversicherung", über Berlin und Marseille nach Brasilien auszuweichen und sich dort eine, wenn auch ärmliche, bürgerliche Existenz im Tourismusgewerbe aufzubauen. Mitte der sechziger Jahre durfte er sich in der Hafenstadt Santos einigermaßen sicher fühlen, zumal sich die brasilianischen Behörden trotz des Drucks jüdischer Organisationen weigerten, ihn an Deutschland auszuliefern "weil er nie deutscher Staatsbürger war".
Im Buch des Mossad-Agenten Künzle und des Journalisten Gad Shimron wird im Stile einer Kriminalstory geschildert, welch aufwendiger Mittel sich Künzle bediente, um in die unmittelbare Nähe des Massenmörders zu gelangen und sich in dessen Vertrauen einzuschleichen. Ausgestattet mit der neuen Identität eines österreichischen Geschäftsmannes, der perfekt Deutsch spricht, und mit Hilfe einer ausgeklügelten Logistik war der Agent schließlich in der Lage, einen persönlichen Kontakt mit Cukurs zu knüpfen und ihn zu angeblich gemeinsamen Geschäften zu überreden. Cukurs konnte davon überzeugt werden, dass er dank der in Aussicht gestellten Kooperation mit dem wohlhabenden Künzle groß in die Tourismusbranche einsteigen und seine höchst bescheidenen Lebensverhältnisse hinter sich lassen werde. Gleichwohl registrierte der Agent, dass der "Henker von Riga" sozusagen instinktiv misstrauisch und wachsam blieb und ihn zu einem äußerst um- und vorsichtigen Vorgehen zwang. Das Buch endet mit der Schilderung der Hinrichtung des Nazi-Schlächters, und die Autoren versuchen nicht, die Tat zu rechtfertigen und zu erklären. Künzle überredete Cukurs zu einer gemeinsamen Geschäftsreise nach Montevideo, wo dieser von einem vierköpfigen Mossad-Kommando in einer leerstehenden Villa hingerichtet wurde. Cukurs' Leiche wurde in eine Kiste gelegt ? ein Foto findet sich im Abbildungsteil des Buches ? und in eine Decke gehüllt, auf der das schriftliche Todesurteil deponiert war:
"Aufgrund der schweren gegen Herbert Cukurs erhobenen Anklagen und wegen seiner nachweislich persönlichen Verantwortung für den Mord an 30.000 Männern, Frauen und Kindern und insbesondere wegen der schrecklichen Grausamkeit, die er bei der Ausführung seiner Verbrechen demonstrierte, haben wir beschlossen, über den Angeklagten Herbert Cukurs das Todesurteil zu sprechen. Das Todesurteil wurde am 23. Februar 1965 durch 'diejenigen, die niemals vergessen', vollstreckt."
Es bleibt festzuhalten, dass vier Tage, nachdem Cukurs' Leiche von der Polizei gefunden wurde und die entsprechenden Berichte durch die Weltpresse gingen, im Deutschen Bundestag über die Verjährung bzw. Nichtverjährung von Naziverbrechen debattiert wurde. Nach siebenstündiger Debatte beschloss die Mehrheit des Parlaments gegen die Stimmen vor allem aus FDP und CSU, keinen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit zu ziehen. Vielleicht haben auch die spektakuläre Hinrichtung des "Henkers von Riga" und deren öffentliche Resonanz dazu beigetragen, dass die Befürworter einer Verjährung am Ende in der Minderzahl blieben.
Hans Martin Lohmann besprach: "Der Tod des Henkers von Riga" von 'Anton Künzle? und Gad Shimron, erschienen im Bleicher Verlag. Das Buch hat 240 Seiten und kostet 19 Euro.