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Anton Tschechow
Fast nichts Neues von Tschechow

Jan Bosse inszeniert am Akademietheater in Wien Tschechows "Die Möwe". Schauspieler-Futter liefere Bosses Inszenierung allemal, eine große, prägende und deutende Idee allerdings nicht - vernünftigerweise. Denn Ambitionen, die mehr wollen, führen fast immer in die Irre, meint unser Kritiker Michael Laages.

Von Michael Laages | 01.06.2014
    Ein roter Theatervorhang
    Am 31.05.14 hatte "Die Möwe", inszeniert von Jan Bosse, am Akademietheater in Wien Premiere (picture alliance / dpa - Marcus Brandt)
    Tschechow erfinden wie neu, sodass alle Welt staunt? Das ist meist komplizierter, als es sich die blühende Fantasie der Neu-Deuter im internationalen Regietheater vorstellen kann. Neulich scheiterte gerade ein hochmoderner Regie-Grieche in Hamburg an der "Möwe", Leander Haussmann bescherte dem Thalia Theater ersatzweise eine berührend schlichte Version. Kaum ein Dramatiker der Moderne wehrt sich ja tatsächlich derart erfolgreich gegen die Ambition von Interpreten – so nebensächlich und auswechselbar, ja zuweilen belanglos die Inhalte und Themen in Tschechows Stücken erscheinen mögen, so filigran verflochten sind die Strukturen des Personals. Fehlt einer (oder ist eine nicht da), bricht alles zusammen.
    Und Jan Bosses Inszenierung in Wien beweist einmal mehr die ensemblestiftende Kraft in jedem Tschechow-Akt. Alles andere ist immer nur Zugabe; und kluge Tschechow-Regie erkennt sehr schnell, dass Zugaben nie den Kern des Abends bilden können.
    "Die Möwe" beginnt bekanntlich als Theaterprobe – der junge Autor Konstantin, geschlagen mit einer Mutter, die in Russland weltberühmt ist als Schauspielerin und von schon leicht verwehender Prominenz, probt mit Nina, einem geliebten Mädchen aus ländlicher Nachbarschaft, einen eigenen Theatertext, der recht finster das Ende aller Dinge beschwört. Familie und Nachbarn setzen sich zu uns ins Publikum, und auch wir sollen mitspielen: Indem wir rote Mini-Taschenlampen anknipsen, die auf Stichwort die Augen des Teufels imaginieren. Das ist ein bisschen albern – markiert aber schon zur Eröffnung den Weg, den Bosses Inszenierung immer wieder nehmen wird: haarscharf an die Ränder der Illusion.
    Ein Teil der kahlen, mit Heizungslamellen überzogenen Rückwand im Akademietheater hatte schon im Vorfeld der Inszenierung eine Hauptrolle bekommen – als Nachbau wurde die Wand durch Wien kutschiert, um vor ihr (und größeren Hintergründen, etwa Prater oder Parlament) die Ensemblemitglieder posieren zu lassen. Das Theater imaginierte sich als Kopie seiner selbst in den öffentlichen Raum. Und auch in der Aufführung ist nun DIE WAND im Dauereinsatz – auf sie kann alles gemalt und projiziert werden, das Theater im Theater zu Beginn, die über und über gedeckte Tafel eines Festgelages im dritten Akt, weißkaltes Licht im letzten Moment. Da ist die tödliche Wirklichkeit eingebrochen in die Illusion, und der junge Dichter, unglücklich und voller Schuldgefühl, hat sich soeben erschossen.
    Außer der Wand wird gelegentlich auch Tschechows Text zielgerichtet in Dienst genommen. Dann stürzt sich etwa der erfolgsverwöhnte, aber längst müde geschriebene Dichter Trigorin, der Mann an der Seite der berühmten Schauspielerin (und für kurze Zeit sehr zerstörerisch liiert mit Konstantins Muse Nina), gleich zweimal in die erste Liebeserklärung an die junge Frau, einmal dezent und mit Hand auf dem Knie, einmal hysterisch und mit Ohrfeigen. Nichts ist wirklich echt, sagt dieser Trick, alles immer nur Pose.
    Schauspieler-Futter liefert Bosses Inszenierung damit allemal, eine große, prägende und deutende Idee allerdings nicht; vernünftigerweise. Und das ist ja auch generell nicht seine Art.
    In den Details allerdings geht Bosse recht weit – am weitesten mit der Figur des alten Gutsbesitzers Sorin, dem Bruder von Schauspiel-Duse Arkadina. Der geht schon recht gebrechlich am Rollator und lebt als starker Raucher aufs Ende zu offenbar mit Raucherbein und Infusionen; während die Arkadina pro Auftritt ein neues Kleid vorführt und den Gipfel der Karriere wohl lange schon hinter sich hat. Im Kern-Personal zeigt sich die Kraft des Ensembles: mit Christiane von Poelnitz und Ignaz Kirchner, neben Michael Maertens als Trigorin und der ziemlich aufregenden Aenne Schwarz als Möwe Nina. Aber bis in die letzte Rolle am Rand kann halt dieses Haus wie wenige andere sonst ein Stück wie dieses besetzen.
    Nichts Neues also von Tschechow? Einerseits ja. "Staunen" muss über diese "Möwe" niemand. Andererseits führen Ambitionen, die mehr wollen, als in Wien zu sehen war, fast immer in die Irre.