Damit dies anders wird, hat die Deutsche harmonia mundi jetzt in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk eine Lotti-CD herausgebracht, in deren Zentrum das F-Dur-Requiem steht. Und die Ausführung ist, um es vorab zu sagen, derart schlüssig und überzeugend, daß ohne Zweifel eine Referenz-Einspielung gelungen ist. * Musikbeispiel: Antonio Lotti - aus: "Requiem" Antonio Lottis Requiem überrascht mit einer Fülle kreativer Einfälle. Dies betrifft die Form, wo feierliche homophone Partien mit kunstvollen Fugen wechseln, wo alle Besetzungsmöglichkeiten bis hin zur Achtstimmigkeit genutzt werden, wo opernhaft-kraftvolle Abschnitte ebenso vorkommen wie sakral-ätherische. Dies betrifft die Instrumentierung des Orchesters, vor allem aber auch den textbezogenen, gezielten Einsatz der Harmonik. Hier herrscht immer wieder eine große Spannung, hervorgerufen durch den Gebrauch der ganzen chromatischen Skala, durch eigenwillige Akkordauflösungen, durch häufig benutzte unvorbereitete Dissonanzen. * Musikbeispiel: Antonio Lotti - "Dies irae" aus: "Requiem" War es Ihnen übrigens nicht auch so, daß hier im Orchester-Fugato des Dies irae des Requiems von Antonio Lotti eine musikalische Figur auftaucht, die uns vom viel späteren Mozart-Requiem, genauer von dessen Kyrie vertraut ist? * Musikbeispiel: W.A. Mozart: - Beginn des Kyrie aus: Requiem c-moll Wie dem auch sei - die Palette der von Lotti benutzten Ausdrucksmöglichkeiten ist äußerst breit, und es überrascht, wenn man liest, daß dieser dramatische Stil die radikalen, aber leider äußerst rückwärtsgewandten Kirchenmusik-Überprüfungen der römischen Kurie Anfang dieses Jahrhunderts unbeanstandet hat hinter sich bringen können, jener Bewegung, die ihr Heil vor allem in der Hinwendung zum alten Palestrina-Stil suchte. * Musikbeispiel: Antonio Lotti - "Juste judex" aus: Requiem Verantwortlich für diese ganz hervorragende Antonio Lotti - CD zeichnet Thomas Hengelbrock, jener kreative Dirigent und Geiger, der 1985 das Freiburger Barockorchester mitbegründete und bis vor zwei Jahren leitete, der mit den Amsterdamer Bachsolisten arbeitete und der von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen 1995 zu ihrem ersten festen künstlerischen Leiter gewählt wurde. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind die Projekte, die Hengelbrock mit dem 1991 gegründeten Balthasar-Neumann-Chor und dem international zusammengesetzten, drei Jahre später ins Leben gerufenen gleichnamigen Instrumental-Ensemble realisiert: allesamt außergewöhnliche, oft genreübergreifende Produktionen, die u.a. im Südwestrundfunk seit dem letzten Jahr in einer Abonnementreihe mit dem Titel "Abenteuer Musik" vorgestellt werden. Zum Schluß sollten Sie aus der neuen CD noch einen Ausschnitt aus dem - nicht zum Requiem gehörenden - Credo hören. Es ist das "Crucifixus", das Herzstück des Werkes, ein Beispiel dafür, mit welcher Kühnheit Antonio Lotti die der Textverdeutlichung dienenden Dissonanzen behandelt, sie schlüssig, aber verblüffend in neue Dissonanzen weiterführt, aufgeschichtet zu hohen Türmen. Solche Wagnisse in Klang umzusetzen, dazu bedarf es eines absolut intonationssicheren Chores, der diese Dissonanzen auszukosten weiß, auf daß jener "staunenerregende Wohlklang" entstehe, von dem ein Lotti-Zeitgenosse berichtet und von dem er nicht zu sagen vermochte, ob er "mehr zur Trauer oder zur heiligen Lust gereiche". * Musikbeispiel: Antonio Lotti - "Crucifixus" und "Et resurrexit" aus: "Credo" Soweit das "Crucifixus" und das "Et resurrexit" aus dem Credo von Antonio Lotti, ausgeführt von Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble unter der Leitung von Thomas Hengelbrock, jetzt erschienen bei der Deutschen harmonia mundi. Damit ist unsere Sendung "Die Neue Platte" zu Ende - einen schönen Sonntag wünscht Ihnen Ludwig Rink.