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Antonio Negri/Michael Hardt: Empire

Guten Abend und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe der Politischen Literatur. Am Mikrophon ist heute Abend Karin Beindorff.

Alfred Schmidt | 11.03.2002
    Guten Abend und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe der Politischen Literatur. Am Mikrophon ist heute Abend Karin Beindorff.

    Im Mittelpunkt dieser Sendung steht heute ein Buch, das in wenigen Tagen auch in Deutschland erscheint, im englisch- und französischsprachigen Raum aber bereits für einiges Aufsehen gesorgt hat. Sein Titel lautet "Empire", und die Verfasser sind der us-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt und der italienische Philosoph und Politologe Antonio Negri. Der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt hat sich mit diesem Werk, das als Theorie der Globalisierungskritiker bezeichnet wird, in einer ausführlichen Besprechung für diese Sendung auseinandergesetzt. Außerdem stellen wir heute eine neue Mentalitätsstudie zur Person Adolf Eichmanns vor, eine kritische Auseinandersetzung mit Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen.

    Es ist noch gar nicht lange her, dass die Kritiker der neoliberalen Globalisierung als weltfremde Spinner abgetan wurden, die nach dem Scheitern des Staatssozialismus nur nicht verstanden hätten, was die Durchsetzung des Weltmarktes der Menschheit an vollendetem Glück zu bieten habe. Doch seit es sich an den Schattenseiten der Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche nicht mehr so leicht vorbeischauen ließ und die Kritiker nicht mehr nur redeten, sondern auch handelten, hat sich die Lage etwas verändert. Nun sprach man begütigend von verständlichen Ängsten, von Wertkonservativismus und davon, dass es dem verständlichen, aber naiven Protest an Durchblick und handlungsfähiger Perspektive mangele. Realpolitik wurde zum Kampfbegriff. Utopie oder Transzendenz gelten heutzutage als Begriffe von gestern, Ernst Blochs 'Prinzip Hoffnung’ etwa verkommt in dieser Ideologie des realen Kapitalismus zum Synonym für Illusionen.

    Als bei den Weltwirtschaftsgipfeln von Seattle bis Genua hunderttausendfacher Protest sich auf den Straßen zeigte, versuchten viele Regierenden diesen Protest auch dank tätiger Mithilfe einer Handvoll Schläger auf beiden Seiten erst einmal zu kriminalisieren. Doch auch das gelang nicht vollständig. Neuerdings versucht man die Kritiker zu umarmen, parteinahe Stiftungen verbreiten langatmige Papiere, in denen sie behaupten, ihre Politiker hätten doch längst die gleichen Themen auf der Agenda wie etwa Attac. Es sei zwar schön und gut, was die neuen Außerparlamentarischen da trieben, doch sie hätten ja nicht einmal eine Theorie vorzuweisen, die erklären könne, wie Globalisierung eigentlich funktioniere und welche Alternativen man dem weltweiten Diktat des Profits entgegensetzen könne. An eben diesem Punkt kam ein Buch zunächst in Frankreich, den USA und Großbritannien auf den Markt, dass diese Behauptungen wenig stichhaltig erscheinen lässt. Es ist ein komplexes Stück politischer Theorie zweier Autoren, von denen zumindest der eine auch in Deutschland kein unbekannter ist. Antonio Negri zählte schon in der sechziger Jahren zu den wichtigsten Theoretikern der radikalen Linken in Italien. Er war der Chef von Potere Operaio, der Gruppe Arbeitermacht. In einem recht zweifelhaften Gerichtsverfahren wurde er wegen 'bewaffneten Aufstands gegen den Staat’ zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt und bekam wegen der 'moralischen Verantwortung’ für Zusammenstöße zwischen militanten Autonomen und der Polizei in Mailand Mitte der Siebziger, also zu Zeiten des staatlich unterstützten Rechtsterrors, noch einmal viereinhalb Jahre aufgebrummt. Negri floh nach Paris, wo er Asyl bekam und 14 Jahre lang Philosophie an der Universität lehrte. Freiwillig kehrte er 1997 nach Italien zurück und lebt seither als Freigänger mit diversen Auflagen in Rom. Michael Hardt, ein Literaturwissenschaftler aus den USA, und Negri haben ihre Analyse der Globalisierung und deren neue Formen der Herrschaft und der Rebellion gegen dieselbe zwischen dem Golfkrieg und dem Krieg im Kosovo ausgearbeitet.

    Spinoza, Marx und Nietzsche sind ebenso wichtige theoretische Bezugspunkte dieser Überlegungen, wie z.B. das Denken des französischen Philosophen und Herrschaftstheoretikers Michel Foucault. Alfred Schmidt, emeritierter Professor am Frankfurter Institut für Philosophie, Autor vieler Arbeiten über verschiedene Aspekte des Marxismus und selbst Übersetzer z.B. von Herbert Marcuse und Henri Lefebvre, hat für uns 'Empire’ rezensiert:

    Die rebellischen Studenten der sechziger Jahre, aber auch Adorno, ihr Kritiker, sprachen noch unbefangen von "Spätkapitalismus". Und obwohl Herbert Marcuse Reichweite und Macht des von ihm "korporativ" genannten Kapitalismus keineswegs unterschätzte, hielt er es gleichzeitig - angesichts ernormen Wachstums der Produktivkräfte - für vertretbar, ein revolutionäres "Ende der Utopie", das heißt aller bisherigen Geschichte in Aussicht zu stellen. Von alldem ist heute keine Rede mehr. Seit dem Verschwinden seines staatsozialistischen Antagonisten von der Weltbühne ist das kapitalistische System lebenskräftiger denn je. Seit etwa zehn Jahren ist "Globalisierung" eines der in Politik und Medien am häufigsten auftauchenden Schlagwörter. Das einerseits neue, andererseits altvertraute Phänomen wird auf beiden Seiten des parteipolitischen Spektrums teils verteufelt, teils unkritisch und fortschrittsgläubig begrüßt. Die zunehmende Schwächung nationalstaatlicher Souveränität wird von rechts beklagt, während es linken Kritikern der Globalisierung häufig entgeht, dass sie, ungewollt, nationalistischen Ressentiments der Gegenseite Vorschub leisten. Vorbehaltlos bejaht wird die neue Situation von neoliberalen Kreisen, zu denen heute auch Sozialdemokraten und Grüne zählen. Sie betrachten Globalisierung als eine längst fällige, der "New Economy" gemäße Politik. Es entsteht, was Christian Fuchs und Wolfgang Hofkirchner, zwei Wiener Sozialwissenschaftler, mit dem Frankfurter Politologen Joachim Hirsch den "für den heutigen postfordistischen Kapitalismus typischen Nationalen Wettbewerbsstaat" nennen:

    Die einzelnen Staaten treten miteinander in Wettbewerb um die günstigsten Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation. Jener Staat, der die Deregulierung und den Sozialabbau am meisten vorantreibt, kann mit dem Wohlwollen des internationalen Kapitals und den sich daraus ergebenden Investitionen und Betriebsansiedlungen rechnen. Die staatliche Politik konzentriert sich zunehmend darauf, einem global immer flexibler agierenden Kapital in Konkurrenz mit anderen Staaten günstige Verwertungsvoraussetzungen zu schaffen.

    Der instruktive Aufsatz von Fuchs und Hofkirchner bemängelt, dass im heutigen Diskurs über Globalisierung häufig Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vernachlässigt werden, etwa die nach Wesen und Ursache der neuen politischen, sozial-ökonomischen und ökologischen Erscheinungen. Sie fragen: Kann es nur die uns bekannte Form von Globalisierung geben oder auch realistische Alternativen? Handelt es sich hier um etwas qualitativ Neues, oder um eine dem historischen Prozess seit langem innewohnende Tendenz? Die wissenschaftliche Literatur bietet hierzu verschiedene Standpunkte. Sie ergeben sich, so Fuchs und Hofkirchner, daraus, dass die Autoren bereits hinsichtlich des Begriffs "Globalisierung" stark voneinander abweichen:

    Es gibt Globalisierungsbegriffe, die nur eine einzige gesellschaftliche Dimension der Globalisierung betonen, und solche, die mehr als nur eine Dimension betrachten. Ansätze, die sich auf eine Dimension beschränken, konzentrieren sich entweder auf technische oder auf ökologische oder auf ökonomische oder politische oder kulturelle Faktoren.

    Methodisch fruchtbarer als solche faktorialanalytischen Betrachtungsweisen sind neue Studien zur Globalisierung, die diese - geschult an Marx und Engels - als jüngste Etappe der Entwicklung des kapitalistischen Systems kennzeichnen. So hat der Ökonom Robert Kurz in seinem umfangreichen, vor zwei Jahren erschienenen Werk `Schwarzbuch Kapitalismus´ den theoretisch anspruchsvollen Versuch unternommen, den gegenwärtigen Weltzustand dialektisch, das heißt im Sinn einer ebenso strukturalen wie historischen Methode darzustellen. Womöglich noch ehrgeiziger ist das ebenfalls im Jahre 2000 gleichzeitig in englischer und französischer Sprache veröffentlichte Werk `Empire´ aus der Feder des amerikanischen Literaturtheoretikers Michael Hardt und des italienischen Politologen und Philosophen Antonio Negri. Das ebenfalls voluminöse Werk, das wird auch von politischen Gegnern zugestanden, hebt die Diskussion über Globalisierung auf ein höheres Niveau. Die Autoren schildern die kommende Weltordnung anhand einer interdisziplinären Analyse der zeitgenössischen Wirklichkeit, die sie als Weltreich, als eine Imperium schrankenloser Machtausübung beschreiben. Ihren zugleich zeitgeschichtlichen wie umfassend-sozialwissenschaftlichen Denkansatz charakterisieren die Autoren wie folgt:

    Das Imperium nimmt vor aller Augen Gestalt an. Im Verlauf mehrerer Jahrzehnte wurden Kolonialregime gestürzt, und nach dem jähen Zusammenbruch der sowjetischen Barrieren des kapitalistischen Weltmarkts wurden wir Zeugen einer unwiderstehlichen und unumkehrbaren Globalisierung des ökonomischen und kulturellen Austausch. Mit dem globalen Markt und globalen Produktionsabläufen hat sich eine globale Ordnung eingestellt, eine neue Logik und Struktur von Herrschaft - kurzum, eine neue Form von Souveränität. Das Imperium ist das politische Subjekt, das diese globalen Umläufe effektiv steuert, die souveräne, die Welt regierende Macht ... Die primären Faktoren von Produktion und Austausch - Geld, Technik, Menschen und Güter - überqueren mit zunehmender Leichtigkeit nationale Grenzen; der Nationalstaat hat deshalb immer weniger Macht, diese Fluten zu bändigen und der Wirtschaft seine Autorität aufzuerlegen. Selbst die vorherrschendsten Nationalstaaten können nicht länger als höchste und souveräne Autoritäten gelten, weder außerhalb noch innerhalb ihrer Grenzen.

    Allerdings ergibt sich hieraus für Hardt und Negri nicht, dass mit dem Niedergang der Souveränität von Nationalstaaten ein Niedergang von Souveränität als solcher einhergeht. Sie stellen fest, dass bei allen zeitgenössischen Veränderungen politische Kontrollen, staatliche Funktionen und regulierende Mechanismen auf Produktion und Austausch eingewirkt haben. Daher die grundlegende Hypothese ihres Buches:

    Souveränität (hat) eine neue Form angenommen ..., die sich zusammensetzt aus einer Reihe nationaler und supranationaler Organisationen, die vereinigt sind unter einer Logik der Herrschaft. Diese neue, globale Form von Souveränität nennen wir Imperium.

    Die Autoren unterstreichen, dass sie das Wort "Imperium" nicht metaphorisch verwenden, was Vergleiche der Gegenwart mit den Reichen Roms, Chinas oder Amerikas erfordern würde. "Imperium" ist ein streng wissenschaftlicher Begriff, der einen spezifisch theoretischen Ansatz kennzeichnet:

    Der Begriff des Imperiums ist grundlegend charakterisiert durch die Abwesenheit von Grenzen: Die Herrschaft des Imperiums hat keine Schranken. Damit kennzeichnet der Begriff des Imperiums in erster Linie ein Regime, das die räumliche Totalität wirksam umfasst, das, mit anderen Worten, die gesamte `zivilisierte´ Welt beherrscht. Keine territoriale Grenze schränkt seinen Herrschaftsbereich ein. Ferner stellt das Imperium sich nicht als ein historisches Regime dar, das aus einem Widerstreit hervorgeht, sondern eher als eine Ordnung, die Geschichte nachhaltig aufhebt und dadurch den bestehenden Zustand für alle Ewigkeit festlegt. Das Imperium stellt sich, mit anderen Worten, nicht als ein vorübergehendes Moment der geschichtlichen Bewegung dar, sondern als ein Regime, das keine zeitlichen Grenzen hat und sich in diesem Sinn außerhalb der Geschichte oder an ihrem Ende befindet.

    Diese neue Ordnung der Dinge verweist zurück auf Altbekanntes, das uns freilich hier in einem unerwarteten Gewand entgegentritt. Bei allen besonderen Umständen, die der erdumspannende Markt für ganze Bevölkerungen mit sich bringt, sprengt er das Kontinuum der kapitalistisch bestimmten Geschichte nicht, sondern bestätigt es. Das erklärt die ebenso breiten wie kenntnisreichen kultur- und geistesgeschichtlichen Exkurse und Rückverweise der Autoren, die ausführlich auf die Frühe Neuzeit als der Quelle kapitalistischer Moderne rekurrieren. Dabei können sie sich auf die historischen und politischen Schriften von Marx und Engels stützen, die Globalisierung als Wesenszug des Kapitalismus schon vor 150 Jahren beschrieben haben. Bereits in der Deutschen Ideologie von 1845/46 erklären die Begründer des Sozialismus, dass die rasante Entwicklung der Produktivkräfte in Westeuropa die Menschen aus einem lokalen und regionalen in ein weltgeschichtliches Dasein versetzt hat.

    Die große Industrie ... zwang durch die universelle Konkurrenz alle Individuen zur äußersten Anspannung ihrer Energie. ... Sie erzeugte insoweit erst die Weltgeschichte, als sie jede zivilisierte Nation und jedes Individuum darin in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte und die bisherige naturwüchsige Ausschließlichkeit einzelner Nationen vernichtete,

    In der Herausbildung des Weltmarktes erblicken Marx und Engels die reale Basis der Stufenfolge nationalstaatlicher Souveränität. Dem ökonomischen gleich folgt der politische Fortschritt auf dem Fuße. Zur Zeit der Manufaktur bildet die bürgerliche Klasse die Gegenmacht gegen den Adel, in der ständischen oder in der absoluten Monarchie wird diese Gegenmacht zu deren Hauptgrundlage. Mit dem Aufkommen der großen Industrie und des Weltmarktes erlangt das Bürgertum im modernen Repräsentativstaat die alleinige politische Herrschaft. Die moderne Staatsgewalt, heißt es im Kommunistischen Manifest von 1848, auf das Hardt und Negri sich immer wieder berufen, "ist nur ein Ausschuss, der die gemeinsamen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet". Berühmt ist das geradezu euphorische Lob, das Marx und Engels in ihrer Programmschrift der welthistorischen Rolle des Bürgertums spenden. Der Weltmarkt, betonen sie, gestaltet Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch. Diese Entwicklung setzt ein im 16. Jahrhundert, in dem Welthandel und Weltmarkt die "moderne Lebensgeschichte des Kapitals" eröffnen. Im `Kommunistischen Manifest´ kennzeichnen sie den noch in unserer Gegenwart nachwirkenden Entwicklungsgang.

    Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonialisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung. ... An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die ... Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois. ... Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.

    Die unleugbar zivilisatorische Rolle des Kapitals besteht darin, dass es alle Völker, wie Marx in seinem Hauptwerk sagt, in das "Netz des Weltmarktes" verschlingt und dadurch an die Stelle der alten "lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit" einen "universellen Verkehr" setzt, eine allseitige Abhängigkeit der Völker voneinander. Das gilt von der materiellen wie von der geistigen Produktion:

    Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit werden mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.

    Mit der raschen Verbesserung der Produktionsmittel und der erleichterten Kommunikation werden noch die barbarischsten Völker in den Prozess der Zivilisation einbezogen. Die Bourgeoisie, sagen Marx und Engels, "zwingt alle Nationen, ... die so genannte Zivilisation bei sich einzuführen". Sie schafft eine Welt "nach ihrem Bilde". Wie sie das Land von der Stadt abhängig macht, die noch barbarischen Völker von den zivilisierten, die Bauernvölker von den industriellen Gesellschaften, so macht sie "den Orient vom Okzident abhängig". Wenn in der heutigen Literatur und auch von Hardt und Negri betont wird, dass das Internet die ökonomische Globalisierung beschleunige, so verweist das auf die von Marx schon im 19. Jahrhundert erkannte Funktion neuer Technologien im Kapitalismus. Sie sind, wie er sagt, "Waffen zur Eroberung fremder Märkte". Im II. Band des Kapitals findet sich hierzu eine bemerkenswerte Stelle:

    Wenn einerseits mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion die Entwicklung der Transport- und Kommunikationsmittel die Umlaufszeit für ein gegebenes Quantum Waren abkürzt, so führt derselbe Fortschritt... die Notwendigkeit herbei, für immer entferntere Märkte, mit einem Wort, für den Weltmarkt, zu arbeiten.

    Ihre - im Sinn Nietzsches und Foucaults - genealogische Untersuchung führt Hardt und Negri über die geographischen und historischen Etappen des Übergangs vom Imperialismus zum heutigen Imperium - ein Übergang, der im Zentrum ihrer Erwägungen steht. Festzuhalten ist, dass das Imperium keine Fortentwicklung oder Spielart des während des Ersten Weltkriegs von Lenin analysierten Imperialismus bildet. Lenin hatte in seiner bekannten Schrift den Imperialismus als "höchstes Stadium des Kapitalismus" beschrieben, als "dichtes Netz von Abhängigkeitsbeziehungen", das sich "über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft" erstreckt. Jedoch setzte Imperialismus, worauf Hardt und Negri bestehen, unbedingte Souveränität des Nationalstaats voraus. Demgegenüber ist das Imperium eine völlig neue Erscheinung. Die durch das moderne System der Nationalstaaten definierten Grenzen waren für die europäische Kolonisation und Expansion grundlegend. Die territorialen Grenzen der Nation umschrieben das Machtzentrum, von dem aus Herrschaft über äußere, fremde Territorien ausgeübt wurde durch ein System von Kanälen und Schranken, die abwechselnd die Flüsse von Produktion und Zirkulation erleichterten oder behinderten. Der Leviathan des modernen Nationalstaates überschritt seinen sozialen Bereich und erlegte anderen Völkern hierarchische territoriale Grenzen auf. Was den Kapitalismus einschließlich seiner imperialistischen, unwiderruflich abgeschlossenen Etappe charakterisierte, war die deutliche Unterscheidung zwischen Binnen- und Außenseite seines Systems. So lesen wir schon in Hegels frühindustriell geprägter Rechtsphilosophie den bemerkenswerten Satz:

    Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluss hat, oder überhaupt an Kunstfleiß und so fort nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen.

    Von Hegel bis zu den Gesellschaftstheoretikern des 20. Jahrhunderts werden "außerkapitalistische Räume" vorausgesetzt. Von ihnen kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Erreicht wurde ein Stadium, worin die Welt so durchkapitalisiert ist, dass es keine weitere Expansion mehr geben kann. Aus der Perspektive des Imperiums, sagen Hardt und Negri, ist der jetzige Zustand so, wie er immer sein wird und eigentlich schon immer gewesen sein sollte. Trotz der unübersehbaren Mächte von Unterdrückung und Zerstörung, die mit dem Imperium einhergehen, sind die Autoren nicht defätistisch. Die Prozesse der Globalisierung und der Übergang zum Imperium bieten den nach Befreiung strebenden Kräften neue Möglichkeiten. Zu beachten ist auch, dass Globalisierung kein schlechthin einheitliches Geschehen darstellt und von den Bevölkerungen - nicht nur der Dritten Welt - keineswegs ohne weiteres akzeptiert wird. Die Globalisierung erzeugt Ängste, aber auch Hoffnungen. Hardt und Negri formulieren sie folgendermaßen:

    Unsere politische Aufgabe ... besteht nicht einfach darin, diesen Prozessen zu widerstehen, sondern es gilt, sie zu reorganisieren und neuen Zwecken zuzuführen. Die schöpferischen Kräfte der Menge, die das Imperium aufrechterhalten, sind zugleich imstande, autonom ein Gegen-Imperium aufzubauen, das heißt eine alternative politische Organisation von erdumspannendem Austausch der Kräfte. Die das Imperium anfechtenden und untergrabenden Kämpfe wie auch diejenigen, die auf eine reale Alternative abzielen, werden daher auf dem imperialen Boden selbst stattfinden. In der Tat haben solche neuen Kämpfe bereits begonnen. Durch diese und viele ihnen ähnliche Kämpfe wird die Menge neue demokratische Formen zu erfinden haben sowie eine neue Macht konstituieren müssen, die uns eines Tages durch das Imperium hindurch- und aus ihm herausführt.

    Man denkt bei diesen eher zurückhaltenden Formulierungen der Autoren an die jüngsten, von "Globalisierungs-Gegnern", wie die Medien sie nennen, verursachten Unruhen anlässlich der Weltwirtschaftsgipfel in Genua, Seattle und Washington. Von einer in größerem Maßstab organisierten Opposition gegen die weltweit identischen standards of life kann derzeit nicht die Rede sein. Der Befehlsgewalt des Imperiums widersetzt sich, so die Autoren, die Bio-Macht Aufbegehrender, die nicht als "Klasse" im Marxschen Sinn, sondern aus vorpolitisch-somatischen Antrieben agieren. Auch hier dürften Nietzsche und Michel Foucault Pate stehen. Die politischen Passagen des Buches erinnern vielfach an Marcuses Spätwerk und dessen Anthropologie rebellischer Lebenstriebe, die merkwürdigerweise unerwähnt bleibt. Wenn Habermas sich gegen die "Kolonialisierung der Lebenswelt" durch das "System" wehrt, so ist auch er nach Ansicht der Autoren noch einer Denkweise verhaftet, die ein "Innen" und "Außen" kennt. Diese binäre Weltsicht ist hinfällig geworden. Indem der Weltmarkt den Nationalstaat als Herrschaftsrahmen des Kapitalismus beseitigt, trägt er bei zur Befreiung der Menge, der "multitude",die jetzt nicht mehr primär als "Volk" oder "Nation" auftritt. In diesem Sinn kann der Übergang der Gesellschaft ins Stadium des Imperiums als Fortschritt angesehen werden. Grenzen sind jetzt bedeutungslos, Kriege zwischen den Völkern nicht mehr möglich. Gleichwohl ist das Imperium keine herrschaftsfreie Welt. Heideggers "planetarische Technik" erweist sich immer mehr als der planetarische Vorrang verdinglichter, ökonomischer Mächte über die Menschen, aus deren kollektiver Arbeit diese doch hervorgehen. Unter diesem Gesichtspunkt formulieren Hardt und Negri folgendes Programm:

    Heute sollte ein Manifest, ein politischer Diskurs danach streben, eine spinozistische, prophetische Funktion auszuüben, die Funktion einer diesseitigen Sehnsucht, die die Menge organisiert. Es geht hier letztlich nicht um einen Determinismus oder um eine Utopie, sondern eher um eine radikale Gegenmacht, die ontologisch nicht nur auf `Offenheit für die Zukunft´ beruht, sondern auf der tatsächlichen Tätigkeit der Menge, ihrer Schöpfung, Produktion und Macht - eine materialistische Teleologie.

    Das Imperium, der unpersönliche, anonymisierte Fürst Machiavellis, wird von den Autoren als ein dezentrierter und territorial nicht festgelegter Herrschaftsapparat beschrieben, der sich die gesamte Erdoberfläche fortschreitend aneignet und sie in seine offenen, sich ausdehnenden Grenzen einbezieht. Das Imperium bringt bewegliche Hierarchien hervor und vielfältige Austausche vermittels wechselnder Netzwerke des Kommandos. Die voneinander abgehobenen Nationalfarben auf der imperialistischen Landkarte haben sich in einem imperialen Regenbogen vermischt. Diese Transformation der modernen imperialistischen Geographie und die Verwirklichung des Begriffs "Weltmarkt" müssen als Übergang innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden. Die räumlichen Aufteilungen der drei Welten sind derart durcheinandergeraten, dass wir fortwährend die Erste Welt in der Dritten, diese in der Ersten und die Zweite fast nirgendwo antreffen. Der Aufbau der Wege und Grenzen dieser neuen, erdumspannenden Prozesse war begleitet von einer Umgestaltung der vorherrschenden Produktionsprozesse selbst, wobei die Rolle der industriellen Fabrik reduziert wurde und kommunikative, kooperative und gefühlsmäßig gesteuerte Arbeit an ihre Stelle trat. In der postmodernen, globalen Wirtschaft - dies die These der Autoren - tendiert die Erzeugung des gesellschaftlichen Reichtums immer mehr zu dem, was sie "bio-politische Produktion" nennen, worunter sie die Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst verstehen, worin Ökonomisches, Politisches und Kulturelles zunehmend aufeinander übergreifen und sich wechselseitig fördern. Es versteht sich, dass ein ehrgeiziges, ungemein gedankenreiches Werk wie das von Hardt und Negri manche Frage offen lässt. Die Autoren machen aus ihrer politischen Option kein Geheimnis. Was sie vorlegen, ist dennoch keine weltanschauliche Bekenntnisschrift, sondern eine Studie gelehrter Forschung, die den Lesern Einiges abverlangt. Sie müssen die Anstrengung des Begriffs auf sich nehmen.

    Alfred Schmidt besprach 'Empire’ von Antonio Negri und Michael Hardt, das zunächst bei Harvard University Press in Cambridge und London erschien. Die Übersetzung der Zitate stammt vom Rezensenten. Am 25. März bringt der Campus Verlag die deutsche Ausgabe heraus, übersetzt von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Der Titel 'Empire’ soll auch hier beibehalten werden, im Untertitel heißt das Buch dann "Die neue Weltordnung". Es hat 461 Seiten und kostet EUR. 34,90.