Freitag, 03. Mai 2024

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"Antonio Vivaldi - Späte Violinkonzerte”

Berühmt bis in die Pop-Charts sind Vivaldis "Vier Jahreszeiten", Violinkonzerte mit Hör- oder Verständnishilfe durch ein außermusikalisches, in kurzen Worten fassbares Programm. Außerdem gehören sie zu den früheren Werken des Meisters aus einer Zeit, wo Musikverleger und Musikalienhändler den Vertrieb der Stücke übernahmen und so für eine weiträumige Verbreitung sorgten. Im Alter wählte Vivaldi einen anderen Vertriebsweg: Er verkaufte die Kompositionen nicht länger als Massenprodukte mit möglichst hoher Auflage, sondern bot seine Manuskripte nur noch direkt seinen Mäzenen und Gönnern an, zu exorbitanten Preisen, sozusagen als unwiederbringlich wertvolle Einzelstücke. Und diese Reichen, Schönen und Adligen waren auf das Erworbene so stolz, dass sie nichts davon herausrückten, kein Kopieren und auch Aufführungen nur in ihrem direkten Umfeld erlaubten. So kommt es, dass es Musikern auch heute nach wie vor gelingt, selbst bei einem so bekannten Komponisten wie Vivaldi noch eine ganze Reihe von Violinkonzerten aufzustöbern, die im Schallplattenkatalog noch nicht vertreten sind und – wichtiger noch – die uns einen neuen Blick auf den vermeintlich wohlbekannten Musiker ermöglichen. Denn Vivaldis hier versammelte späte Violinkonzerte sind noch unkonventioneller als seine frühen, voller Inspiration, geschrieben mit Mut zum Außergewöhnlichen, offenbar auch mit dem Willen, weiterhin an der Spitze der Avantgarde zu stehen. Nicht allein aus künstlerischen Gründen übrigens, sondern in Reaktion auf sein Umfeld. Denn seit etwa 1725 fing sein Stern etwas an zu verblassen, weil jüngere Komponisten-Kollegen in Neapel einen neuen, üppigeren, vielleicht sogar schrilleren Stil kreiert hatten. Vivaldi startet eine Gegenoffensive, will die Gegner mit ihren Waffen schlagen, wirft überkommene Regeln über Bord, verstärkt die Kontraste, setzt auf Provokantes, opfert Entwicklung zugunsten von Überraschungsmomenten. Dem Solisten wird Schwierigstes abverlangt, und auch das Orchester löst sich von schematischer Begleitung und bietet jetzt eine Vielfalt rhythmisch differenzierter Selbständigkeit. So erleben wir rauhe Tutti mit überraschenden Pausen und fast schon ironischen Einwürfen, tiefste Melancholie neben übermütigem Drängen, opernhafte Passagen, instrumentale Liebeslieder, komplizierte Variationen, poetische Stimmungsbilder und geigerisch-virtuose Höhenflüge. Zum Glück hat sich ein Solist und ein Orchester diesem Auf und Ab der Gefühle angenommen, bei dem man nicht fürchten muss, dass es im Strudel der Ereignisse untergeht. Giuliano Carmignola heißt der italienische Geiger, in seiner Jugend Schüler von Luigi Ferro, Nathan Milstein und Henryk Szering, Gewinner zahlreicher internationaler Wettbewerbe auf der modernen Violine, inzwischen bei historischem Instrument und Spielweise angekommen: ein ungemein zupackender, mit großem Farbenreichtum glänzender Musiker, voller Feuer und tiefem Gefühl, weit weg von kühler Virtuosität als Selbstzweck, dabei dennoch von immensem technischen Können, das er in den Dienst der Musik stellt. Ähnlich engagiert das Barockorchester Venedig, das es seit 1997 gibt als erstes venezianisches Ensemble, das auf historischen Instrumenten musiziert. Mitbegründer und heutiger Leiter ist Andrea Marcon, ein führender Kenner der italienischen Barockmusik, ausgezeichnet für seine Schallplattenaufnahmen und Wettbewerbsbeiträge in Innsbruck, Brügge und Bologna. Heute ist er Professor für Cembalo und Orgel an der für die Alte Musik so wichtigen Schola Cantorum in Basel. * Musikbeispiel: Antonio Vivaldi - 3. Satz aus: Concerto D-Dur, RV 222

Ludwig Rink | 26.05.2002