Samstag, 20. April 2024

Archiv


Anwalt der Künste

In seinem neuen Buch "Im Raum der Stille" widmet sich George Steiner glanzvollen Namen wie Beckett, Brecht, Celan und Canetti. Das Wunderbare und das Abgründige einer künstlerischen Schöpfung faszinieren Steiner und bringen ihn dazu, die genannten Lektüren in Form von brillanten Essays zu besprechen.

Von Joachim Hildebrandt | 05.07.2011
    George Steiner ist einer der letzten großen Universalgelehrten unserer Zeit. Das letzte Mal war er 2005 in Deutschland, als er von Joschka Fischer den Ludwig-Börne-Preis überreicht bekam. Der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Durs Grünbein steht in ständigem Kontakt mit dem heute 81-Jährigen. Er hat ihn mehrmals getroffen.

    Durs Grünbein: "Sowohl in Deutschland als auch zweimal in Cambridge. Ich habe ihn im März zuletzt dort besucht. Es gibt seit Jahren einen Briefwechsel. Das ist das Interessante, die äußerste Disziplin, mit der George Steiner arbeitet."
    George Steiner hat an den berühmtesten Universitäten der Welt, wie Princeton, Cambridge und Yale gelehrt.

    Grünbein: "Das ist, wie ich finde, die Besonderheit dieses Mannes. Dass er als großer Philologe einerseits die Autonomie der Kunstwerke anerkennt, sieht, und sie aber auch andererseits feiern kann. Er gehört zu den wenigen aus dem akademischen Bereich, die gerade nicht der Hybris erliegen zu sagen, wir, die Kommentatoren, wir, die Sekundärwissenschaftler, sind bereits wichtiger als die Kunstwerke selbst. Das ist sein Grundansatz und damit steht er sehr allein und hat sich auch vermutlich viele Feinde gemacht innerhalb der akademischen Zirkel, aber um so mehr Freunde bei den Künstlern."
    Steiner hat eine Spürnase für verborgene Schlüsseldokumente. Wie ein Wünschelrutengänger findet er heraus, was sich unterhalb der ausgetretenen Oberfläche befindet. Immer in einem Text. Ihn lockt es herauszufinden, was hinter einer Verkettung anscheinend disparater Umstände, auch in der Biografie eines Menschen, steckt. Steiner beweist mit seinen Essays, dass er selber ein erstrangiger Gelehrter ist. Für ihn hat dieser folgende Gaben und Qualitäten:

    Er erspäht den gestohlenen Brief, wo andere nur die Tapete anstarren. Er entdeckt den Fleck im Kristall, die irreführende Notiz im Archiv, den verhüllten Druck hinter dem gefälschten oder mit einem Maulkorb versehenen Schriftstück ... entwickelt von da aus Anwendungen und allgemeine Schlussfolgerungen, welche die gesamte Landschaft unserer historischen, literarischen und sozialen Wahrnehmungen verändern können.

    Es gibt zwei Arten von Büchern, die er geschrieben hat. Zum einen die umfassenden und gründlichen Studien, mit denen er es zu internationalem Ansehen gebracht hat. Zum anderen sind es Bücher, die sich in essayistischer Form mit dem künstlerischen Schaffen auseinandersetzen.

    Steiners Essays in diesem Band "Im Raum der Stille" beginnen mit Anthony Blunt, der Kunstkritiker für den Londoner Spectator gewesen war, später Vorlesungen in Cambridge hielt und in der akademischen Welt sehr geschätzt wurde aufgrund einer hervorragenden Mischung aus Strenge und Fantasie in seinen Schriften. Doch dieser Mann beging Verrat.

    Er arbeitete für den britischen Geheimdienst während des Krieges und ließ sich zugleich vom KGB anwerben. Die Faszination des Falles Blunt liegt sicherlich darin, dass ein Drang nach unbedingter Wahrheit und eine Bereitschaft, falsche Informationen weiterzugeben, zugleich bestand.

    Der Grund für das Interesse von Steiner an solchen Biografien ist das der Hochbegabung. In seinen Essayband hat er noch einen zweiten, ähnlich gelagerten Fall aufgenommen, nämlich Albert Speer, den Chefarchitekten des Dritten Reichs. Steiner stellt sich bei beiden Figuren die Frage: Wie kommen Begabung und das Böse zusammen? Dieses Thema beschäftigt Steiner immer wieder.

    Steiner ist ein Katalogisierer seiner Zeit, dem es nicht an Noblesse mangelt. Er verschafft uns mit seinen genauen Beschreibungen der Werke oder der Biografie eines Künstlers oder Gelehrten einen erweiterten Zugang zu den von ihm ausgewählten Menschen. Die Beiträge sind für das Wochenmagazin New Yorker verfasst worden, eigentlich für ein amerikanisches Publikum.

    Aber es geht in der Regel um europäische Denker, Künstler oder Schriftsteller, die, so kommt es einem vor, zugleich dem fremden Leser erklärt werden in ihrer Komplexität. Da braucht man sich nur seinen Text über Karl Kraus und Thomas Bernhard einmal anzusehen, in dem er erklärt, wie ein österreichischer Künstler im letzten Jahrhundert funktioniert. Auch da gelingt es Steiner, mit knappen Formulierungen das Wesentliche der Genannten zu treffen.

    Grünbein: "Es geht da um Samuel Beckett, um Cioran, um den wiederum sehr umstrittenen französischen Romancier Ferdinand Celine. Immer sind es diese Grenzgänger, die ihn anziehen. Die an den Rändern ihrer Kunst operieren und bis heute umstritten sind."
    Man kann sich fragen, wie Steiners Auswahl entstanden ist. Man könnte vielleicht sogar sagen, die ausgewählten Personen sind welche, die die Wahrheit mehr liebten als ein menschliches Wesen. So wie Voltaire oder später dann Tolstoi.

    Grünbein: "Das ist eines der Grundprobleme des 20. Jahrhunderts. Warum Geist und Moral, das richtige ethische Verhalten, so weit auseinanderfallen, warum wir gerade im 20. Jahrhundert eine gehäufte Anzahl von Immoralisten plötzlich haben? Einerseits weiter das platonische Begehren nach dem Schönen und Wahren, und auf der anderen Seite, auf einer privaten Ebene, ein absolut scheußliches, inhumanes, oder wenigstens unempathisches Verhalten, ein Unvermögen, Mitgefühl zu empfinden für unmittelbare Opfer und für politische Situationen, in denen Opfer entstehen."
    In dem Essay über Karl Kraus meint Steiner, die Schärfe der Satire sei ortsgebunden. An Wien, wo Karl Kraus seine Zeitschrift "Die Fackel" herausgab. Mit Freud könnte man sagen, ein "Unbehagen in der Kultur" machte Kraus deutlich.

    Grünbein: "Es hat wieder die Funktion, einem fremden Publikum zu erklären, wie sehr das an die Umstände, an die K.u.k.-Gesellschaft, in diesem Fall an die Stadt Wien, nebenbei gesagt, die Geburtsstadt von Steiner, gebunden ist."
    Steiner wirkt fast besessen von seinem Stoff. Obschon es unpersönlich klingt, ist das von ihm Aufgeschriebene zutiefst emotional verfasst worden.

    Grünbein: "Es ist, glaube ich, eine der großen Bewegungen in ihm selbst, das ewige Ringen der Ideen mit den Ästhetiken. Er würde nie am Ende Ideenkonstruktionen über reale Kunstwerke stellen. Das Kunstwerk selbst ist das Maß am Ende, auch übrigens das Maß für ihn des Humanums."

    Die Artikel von Steiner sind von 1967 bis 1990 geschrieben worden, bis kurz nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Sowjetreiches. Für Steiner ist klar, dass Kunstwerke auch eine erzieherische Funktion haben, nicht nur zur Unterhaltung da sind. In seinem Artikel über Paul Celan schreibt er, dass man alles daran setzen sollte, ein Buch zu bekommen, von dem man glaubt, dass es das Leben verändern kann.

    Borgen Sie es sich von einem Freund aus, solange Sie auf Ihr Exemplar warten. Stehlen Sie es, wenn nötig. Aber gewähren Sie Celan jetzt, da er bis zu einem gewissen Grad im Englischen verfügbar ist, Eintritt in Ihr Leben. Auf eigenes Risiko, im Bewusstsein, dass er es verändern wird. Im Wissen, dass seine Gedichte – wie der "archaische Torso Apolls" in Rilkes berühmtem Poem – die Forderung aussprechen "Ändere dein Leben jetzt".
    George Steiner charakterisiert treffend in einer Mischung aus analytischer Kritik und Fantasie die von ihm ausgewählten Künstler und Gelehrten. Er erweist sich als Kenner der jeweiligen Zeitumstände und orientiert sich lexikalisch genau an den Biografien seiner Akteure. Auch bei seinen wichtigsten Helden Paul Celan und Samuel Beckett. Sie gehören für Steiner zu den bedeutendsten moralischen Instanzen im 20. Jahrhundert.

    George Steiner: "Im Raum der Stille: Lektüren"
    Suhrkamp Verlag, 280 Seiten, Euro 22.90, April 2011