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Anzeichen für unkontrollierte Kernspaltung in Fukushima

In einem beschädigten Reaktor des japanischen Atomkraftwerkes Fukushima sind Radionuklide des Edelgases Xenon gefunden worden, die bei einer Kernspaltung entstehen. Ein Hinweis, dass die Lage in den Reaktoren instabiler ist, als erhofft.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Uli Blumenthal | 02.11.2011
    Uli Blumenthal: In den Resten eines Reaktors des schwerbeschädigten japanischen Atomkraftwerk Fukushima könnte es eine unkontrollierte Kettenreaktion gegeben haben. Vorsorglich wurde Borsäure in die Anlage geleitet. Ein Anstieg der Temperatur, des Drucks oder der Radioaktivität in dem Reaktor wurde laut Betreiberfirma Tepco nicht gemessen. Dagmar Röhrlich, Journalistin mit Schwerpunkt Kernenergie, wie muss man diese Meldung einordnen?

    Dagmar Röhrlich: Man hat bei Messungen, als das Gas aus dem Reaktordruckbehälter abgesaugt worden ist, um die Radioaktivität etwas zu erniedrigen, direkt auch gemessen, was ist da jetzt alles an Radionukliden drin, und hat da Xenon 133 und 135 gefunden. Beides sind sehr kurzlebige Varianten dieses Edelgases, von fünf Tagen beziehungsweise neun Stunden. Sie müssen also entstanden sein, sie können nicht aus dem März stammen. Dann hat Tepco zugeben, dass es dort unleugbar zu einer Kernspaltung gekommen sein. Wenn man dann Experten fragt, was ist damit gemeint, denn die zerfallen ja eh die ganze Zeit, diese Radionuklide, wenn sie instabil sind, dann sagen die Experten, dahinter verberge sich dann eine Kettenreaktion, die nicht wie in einem Reaktor normalerweise groß und andauernd ist, sondern lokal und immer wieder mal aufflackert und dann wieder weggeht. Eine begrenzte Kettenreaktion sozusagen.

    Blumenthal: Wie muss man das jetzt einordnen? Teilfrage eins: Was weiß Tepco über die Situation vor Ort wirklich, und was sind dann die Interpretationen, die Tepco vornimmt, wie realistisch sind sie?

    Röhrlich: Tepco hat Messwerte, aber es ist, sodass man zum einen nie weiß, wie sicher, wie zuverlässig die Informationen sind, die man von Tepco bekommt, und zum anderen ist keiner in dem Reaktor drin. Niemand weiß, wie es da wirklich aussieht. Solche Kettenreaktionen soll es in Tschernobyl gegeben haben, es ist da nie wieder gesagt worden, ob es sie da wirklich gegeben hat oder nicht. Sie wurden immer wieder vermutet. Es gab einen natürlichen Reaktor in Oklo, im Gabun, vor anderthalb Jahren. Da lief für 500.000 Jahre so etwas natürlicherweise ab. Und zwar ist das eine Uranlagerstätte, wo das spaltbare Material so dicht gepackt worden ist, dass das Grundwasser immer wieder die Kettenreaktion ans Laufen gebracht hat, und wenn das Grundwasser verdampfte, dann hört die Kettenreaktion wieder auf. Das war so ein Zweieinhalb-, Dreistundenrhythmus. Hier wird es natürlich jetzt anders sein. Es kann sein, dass sich im Reaktor irgendwas verschoben hat, durch Einspeisung von Wasser oder durch irgendwelche Erdbeben oder so etwas, sodass es eine neue Entwicklung ist. Es kann genauso gut sein, dass es die ganze Zeit schon gelaufen ist, denn es wirklich dort nicht regelmäßig überwacht. Das Xenon kann also auch schon seit Wochen, seit Monaten so freigesetzt werden. Beispielsweise kann diese Reaktion laufen, dann wieder zum Stoppen kommen, weil beim Zerfall dieser Kerne, bei der Spaltung, dann zu viele Neutronengifte entstehen, also Stoffe, die diese Neutronen wegfangen, sodass sie dann wieder unterbrochen wird, dann wieder ans Laufen kommt. Aber was genau passiert, weiß niemand. Darüber kann man nur spekulieren.

    Blumenthal: Der Begriff, der verwendet wird, heißt Kettenreaktion. Man unterstellt oder vergleicht es dann häufig mit einer Kernschmelze. Ist das jetzt schon eine Kernschmelze oder ist das erstmal nur eine unkontrollierte Kernspaltung?

    Röhrlich: Das ist erstmal eine Kernspaltung, die da abläuft. Eine Kernschmelze, dafür müssen die Temperaturen sehr viel höher sein. Das hatten wir anfangs durch die Nachzerfallswärme. Weil nach dem Unfall ja alle Kühlmöglichkeiten ausgefallen sind, hat sich das Ganze auf mehr als 1200 Grad erhitzt und dann kam es zur Kernschmelze. Das heißt, das Ganze - das radioaktive Material, die Hüllen von den Brennrohren -, alles schmilzt und wir zu einer Art Lava, fließt dann am Boden des Reaktordruckbehälters zusammen. Das ist damals passiert.

    Jetzt ist man bei 50 bis 70 Grad, je nachdem, welchen Block man anschaut, weit drunter. Dort sind es dann solche kleinräumigen, lokalen Kettenreaktionen, die auch immer wieder zum Erliegen kommen - so jedenfalls die Interpretation der Experten. Also eine ganz andere Situation.

    Blumenthal: Bis Jahresende wollte Tepco einen stabilen Zustand herstellen. Was geben uns die Daten jetzt für Indizien? Ist man wirklich in diesem Zeitplan, so es einen gibt, oder ist das ein Rückschlag?

    Röhrlich: Ein wirklich stabiler Zustand? Dann darf es nicht solche auftauchenden Reaktionen geben. Man hat sich anscheinend über manche Zeiten hinweg das Bor-Einspeisen gespart, denn das hätte das verhindert. Man muss einfach sehen, dass es jetzt wahrscheinlich noch länger dauern wird. Die Reaktoren sind inzwischen alle drei kühl, aber man ist noch nicht soweit, dass man auf das Kühlen verzichten könnte, auch das Zuführen von Kühlwasser. Also Luftkühlung würde nicht ausreichen. Und solche Sachen dürfen einfach nicht sein, denn dieser stabile Zustand ist einfach wichtig, damit die Leute richtig anfangen können aufzuräumen.