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Apokalyptische Visionen einer schwarzen Kassandra

In Tina Rahel Völckers Stück geht es um große globale Themen wie Finanzkrise, unzufriedene und sich radikalisierende Europäer und den Hunger in Afrika. Mit dem Stück "Kein Science-Fiction" siedelt die Dramatikerin die mythologischen Figuren Agamemnon und Kassandra in der Gegenwart an.

Von Dina Netz | 12.02.2012
    Die Schauspielhäuser, die heute im Zentrum vieler deutscher Städte stehen, wurden aus gutem Grund so gebaut, wie sie sind: mit einem nach hinten ansteigenden Zuschauerraum frontal zur Bühne. So haben möglichst viele Zuschauer eine gute Sicht, und die Stimmen der Schauspieler sind unverstärkt verständlich.

    Viele, vor allem jüngere Regisseure, durchbrechen dieses Guckkastenprinzip, weil sie neue Theatererlebnisse wollen. Das kann reizvoll sein, wenn man die optischen, akustischen und auch athletischen Herausforderungen bedenkt, die dem Publikum dadurch zugemutet werden. In Düsseldorf hat man das nicht bedacht.

    Das Publikum wird bei der Uraufführung von Tine Rahel Völckers Stück "Kein Science-Fiction" durch einen stollenartigen Gang auf die Bühne geleitet, steht etwas verloren um die Schauspieler herum, nur die in der ersten Reihe sehen und hören was. Später werden Sitzkissen gereicht – ah, wir sind Occupy! versteht man da. Aber so richtig leuchtet dieses unbequeme Herumhocken nicht ein, denn die jugendlichen Protestbewegungen spielen im Stück nur am Rand eine Rolle. Nach einer Stunde kapituliert die Inszenierung von Nora Schlocker vor ihren eigenen Mitteln und schickt das Publikum in den Zuschauerraum. Bis dahin hat man sich abgemüht, etwas zu verstehen, zu sehen und eine erträgliche Körperhaltung einzunehmen – und vom Stück wenig mitbekommen. Und das bei einem so komplizierten Text.

    Im Mittelpunkt von "Kein Science-Fiction" und des Reiches oder Konzerns Atreus steht Agamemnon, gespielt von Ingo Tomi:

    "Schauen Sie, das Leben ist so einfach wie das Begehren: Es ist entsetzlich kompliziert. Natürlich, es gibt einfache Dinge. Zwar gibt es auch einfache Dinge, wie den Wunsch, sich den Bauch vollzuschlagen oder den Geschlechtstrieb zu befriedigen, ein bisschen anspruchsvoller wird es aber in beruflichen und gesellschaftlichen Dingen, wo man dem eigenen Urteil naturgemäß nicht mehr traut. Wo man einen Mittler benötigt. Der einem sagt, was gut ist und was man wünschen soll. Darauf fußt alle Tätigkeit der Firma Atreus."

    Aber die Mittlertätigkeit scheint nicht mehr so richtig zu funktionieren. Die Menschen, verkörpert durch eine junge Frau, die Agamemnon "Kafka" nennt, bewerben sich bei Atreus nur noch, um nicht im Arbeitshaus zu landen, wo man Steine schleppen muss. Eine jugendliche Protestbewegung beginnt sich zu formieren, und parallel dazu baut der "Krieger" eine rechtsradikale Massenbewegung auf. Doch Agamemnon unterschätzt in seiner Selbstherrlichkeit sowohl diesen Gegner als auch die Warnungen seiner Beraterin, die aus Afrika kommt und die er Kassandra nennt:

    "Versteht es als Zeichen, wenn ihr nirgends mehr Liebe findet, und eure Familien sich selbst zerstören, wenn die lang gehegte Wirtschaftsordnung zerfällt und euer Rechtsstaat wie ein Glas zerbricht. Der Himmel wird sein wie siedendes Öl, die Seelen werden gepaart, und dann kommt unsere Apokalypse, die nicht eure Apokalypse ist denn unsere Apokalypse ist euer Ende."

    Xenia Noetzelmann als Kassandra malt sich im Laufe des zweistündigen Stücks immer weiter schwarz an, denn die Zukunft von Atreus ist düster – ob nun protestierende Jugendliche, ausgebeutete Afrikaner oder Neonazis, die sich nach Identität und Sicherheit sehnen, die Macht übernehmen. Schließlich schlägt der Krieger Agamemnon den Kopf ab.

    Der erst harmlos schmeichelnde und dann spuckend eifernde Aleksandar Radenkovic hat damit die einzige Figur abbekommen, die sich entwickeln darf. Auch die anderen Schauspieler mühen sich nach Kräften, aber ihre Rollen sind eher Funktionen als Figuren, und der stark monologische Text bleibt deshalb spröde.

    Tine Rahel Völcker hat zu viel gewollt: den Kassandramythos, das Ende der Weimarer Republik und die Krise der heutigen Finanzwelt gleichsetzen, von Hunger in Afrika, unzufriedenen und sich radikalisierenden Europäern erzählen. Und Nora Schlockers aktionistische Regie macht dieses Thesentheater nur noch konfuser.

    Schade. Denn "Kein Science-Fiction" Stück ist ein sehr gut gemeinter Versuch, die Dinge auf dem Theater zu behandeln, die im Moment die Welt in Atem halten. Nur leider kein gut gemachter.