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Aporien, Sterben

Jacques Derrida:

Klaus Englert |
    - Aporien, Sterben - Auf die ‘Grenzen der Wahrheit’ gefaßt sein Fink, 1998, 130 Seiten Preis: 38 Mark

    - Auslassungspunkte Gespräche Passagen-Verlag, 1998, 434 Seiten Preis: 98 Mark

    - Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse! Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hans-Dieter Gondek Suhrkamp, 1998, 234 Seiten Preis: 19,80 Mark

    "Die Einzigartigkeit der Philosophie besteht darin, daß ihr kein Gebiet im voraus zusteht. Wenn es Philosophie gibt, so ist sie eine Weise des Fragens oder des Suchens, die sich nicht gleich zu Beginn in einem Gebiet des Wissens oder der Rede einschließen läßt. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, die einem bestimmten Objektfeld entspricht. Folglich ist die Philosophie immer dazu aufgerufen, die Gebietsgrenzen des Fachwissens und der Forschung zu überschreiten und sich selbst über ihre eigenen Grenzen zu befragen. Sie kommt nicht umhin, ständig ihre Grenzen zu verschieben. Letztlich lassen sich alle philosophischen Diskussionen von der Frage leiten: Was ist die Philosophie? Wo beginnt sie, und wo hört sie auf? Wo verläuft die Grenze? Auch wenn die Diskussion einen bestimmten Gegenstand zu haben scheint, genügt es, sie ein wenig weiter zu führen, um zu merken, daß es die Frage nach der Grenze des Philosophischen ist, die jedesmal auf dem Spiel steht."

    Was der französische Philosoph Jacques Derrida über Bestimmung und Grenzen seiner Disziplin sagt, gilt unter den Kollegen seiner Zunft keineswegs als selbstverständlich. Immer wieder wurde dieser Grenzgänger von jenen zur Räson gerufen, denen es um eine vermeintliche Eigengesetzlichkeit der Philosophie geht. Natürlich ging dies niemals ohne Reibungen vonstatten. So ist es alles andere als zufällig, daß Derrida, dessen bekanntes Werk "Randgänge der Philosophie" eindringlich das Selbstverständnis des eigenen Fachs befragt und erschüttert hat, von den seriösen Kathederphilosophen gemieden wird. Daß er auch in den letzten Jahren dem eigenen Denkansatz treu blieb, dies bezeugen drei Publikationen, die kürzlich vom Frankfurter Suhrkamp-, dem Münchner Fink- und dem Wiener Passagen-Verlag vorgelegt wurden.

    Um es gleich vorwegzunehmen: Der große Wurf befindet sich nicht unter diesen Veröffentlichungen. Allesamt handeln sie nämlich von Miszellen - von Vorträgen, Aufsätzen, Briefen und Interviews aus den letzten Jahren. "Aporien" mit dem Untertitel "Sterben - Auf die ‘Grenzen der Wahrheit’ gefaßt sein", publiziert vom Fink-Verlag, geht auf einen Vortrag zurück, den Derrida erstmals 1992 im französischen Cérisy-la-Salle und einige Monate später in Kassel hielt. Dieser Vortrag mag schon deswegen interessant sein, weil er aufschlußreich für Derridas akribisches Verfahren der Dekonstruktion ist. Denn der ganze Vortrag - dies sind immerhin 130 Seiten - ist eine Auseinandersetzung mit lediglich sechs Seiten aus Heideggers "Sein und Zeit". Ging es Derrida soeben noch um die Grenzen der Philosophie, so stellt er in seinem Vortrag die existentielle Grenze des Daseins - nämlich den Tod - in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Und gerade hiervon handelt auch "Sein und Zeit".

    Derrida hält zunächst Heidegger zugute, daß er über alle fachwissenschaftlichen Bestimmungen hinausgeht, die den Tod immer nur symbolisch erfassen. So habe die anthropologische und biologische Forschung im voraus entschieden, was der Tod im Gegensatz zum Leben ist. Und die Theologie verstehe den Tod lediglich als Grenze zwischen Leben und höherem oder niederem Sein. Für Derrida scheint die Wende erst mit Heidegger gekommen zu sein. Denn dieser habe den Tod eben nicht als das aufgefaßt, was gerade noch - im allgemeinen Verständnis - als "existentielle Grenze des Daseins" beschrieben wurde. Nein, Heidegger verstand das Leben als immer schon ausgerichtet auf den Tod. Und gerade deswegen sei der Tod "ein Phänomen des Lebens".

    Um im Bilde zu bleiben: Die Grenze des Todes wird damit ins Leben hineingezogen, denn das Leben kann sich nie vom Tode dispensieren. Doch an dieser Stelle distanziert sich Derridas dekonstruktive Lesart von Heideggers Todesverständnis. Sie demaskiert eine theatralische Farce, die genau dann eintritt, wenn Heidegger das "eigentliche Sterben" zu einem Willensakt stilisiert; wenn der einzelne den eigenen Tod sozusagen der herrschenden Gleichgültigkeit abtrotzt. Der Philosoph aus dem schwäbischen Todtnauberg sieht darin einen heroischen Akt, während sich der Philosoph aus Paris heftig gegen diesen Todesheroismus ausspricht, der nicht zufällig zur Grundstimmung des deutschen Faschismus gehörte. Derrida erblickt in dieser Haltung einen Rückfall in den Anthropozentrismus.

    Auch das andere Buch handelt von der Grenze, genauer: von der Grenze zwischen Philosophie und Psychoanalyse. Bereits der Titel des im Suhrkamp-Verlags herausgegebenen Buchs kündigt die thematische Ausrichtung der hier versammelten Reden an: Er heißt programmatisch: "Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse!". Doch mit diesem Titel beginnt bereits die ganze Problematik des Bandes. So waren nämlich die einführenden Worte Derridas überschrieben, die er 1988 in der Pariser Sorbonne einem Vortrag des Psychoanalytikers René Major vorangestellt hatte. Diese kurzen Bemerkungen, sozusagen der Aufhänger des Buches, bestätigen den Verdacht des Rezensenten, daß derzeit in Deutschland ohne Rücksicht auf Qualität alles und jedes von Derrida übersetzt wird. Im umfangreichen Nachwort des Herausgebers Hans-Dieter Gondek, das allerdings nur auf vier kurzen Seiten die abgedruckten Reden streift, heißt es sogar, daß es zu dieser kurzen, improvisierten Rede gar kein Original gibt. Wäre die Sache nicht so ernst, könnte man mit dem Dekonstruktivisten-Slogan antworten "Alles beginnt mit der Übersetzung, mit der Kopie." Nun wird aber die Sache bei den folgenden Vortrag nicht grundsätzlich besser, denn auch hier sind grundsätzliche Bedenken angebracht. Ärgerlich ist vor allem der erste längere Vortrag mit dem Titel "Aus Liebe zu Lacan". Derrida hatte ihn 1992 während einer vom "Collège International de Philosophie" veranstalteten Unesco-Tagung auf halb improvisierte Weise gehalten. Diese Informationen sind allerdings nur dem französischen Original, nicht aber dem 50seitigen Nachwort des deutschen Herausgebers zu entnehmen. Derridas hier vorgestellte Lacan-Kritik ist nicht viel mehr als die Kurzfassung seines, allerdings bemerkenswerten Aufsatzes "Facteur de la vérité", der bereits 1975 erschien. Der Vortrag "Gerecht sein gegenüber Freud" nimmt eine Jahrzehnte zurückliegende Kontroverse mit Michel Foucault wieder auf: Mit Bezugnahme auf Foucaults "Histoire de la folie" referiert Derrida, daß das Projekt der Moderne unablässig mit den Grenzerfahrungen des Lebens - mit dem Wahnsinn und dem Tod - verknüpft ist. Von verschiedenen Fachrichtungen herkommend, haben sich der Mediziner Foucault und der Philosoph Derrida auf ähnliche Weise für die Analytik der Endlichkeit, die nur ein anderer Name für die Psychoanalyse ist, interessiert.

    Im ganzen bleibt die Auswahl der Texte eher enttäuschend. Diesen Eindruck kann auch der Vortrag "Widerstände" nicht entkräften, der wesentliche Grundlinien von "Spéculer - sur ‘Freud’", Derridas dekonstruktiver Lektüre von Freuds "Jenseits des Lustprinzips", noch einmal aufnimmt. Derridas Absicht, den Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse zu vertiefen, können diese neuen Beiträge schwerlich einlösen. Deswegen seien dem interessierten Leser die nach wie vor wegweisenden Studien aus den sechziger und siebziger Jahren empfohlen.

    Mehr Glück wird der an Übersichtlichkeit und Allgemeinverständlichkeit orientierte Leser mit dem Interview-Band "Auslassungspunkte" des Passagen-Verlags haben. Diese Interviews aus den Jahren 1975 bis 1990 haben zwar eine sehr unterschiedliche Qualität, weil sie nicht nur in Fachzeitschriften und Tageszeitungen erschienen, sondern sogar in Radio und Fernsehen gesendet wurden. Nicht jedes Gespräch hat die gleiche Intensität und Eindringlichkeit wie jenes über die Subjekttheorien mit Jean-Luc Nancy. Dafür hat der Leser einen Überblick über die verschiedensten Anwendungsgebiete der Dekonstruktion. Also über jenes Verfahren, das im Aufdecken vermeintlicher Sicherheiten, Normen und Wahrheiten besteht, um schließlich überraschende Vielheiten und Mehrdeutigkeiten sichtbar zu machen. Ähnliches trifft für einen oft diskutierten Grenzbereich der Philosophie zu, nämlich für das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur: "Die Schwierigkeit der Frage oder die Fülle an Fragen, ihre Schwierigkeit, aber auch ihre Notwendigkeit liegt vielleicht in der Tatsache, daß die Unentschiedenheit der Grenze sich nicht nur zwischen Literatur und Philosophie und Dichtung und Philosophie zeigt. Damit will ich sagen, daß derselbe Text, derselbe Satz in unterschiedlichen Situationen einmal dem literarischen Feld und einmal der sogenannten gewöhnlichen Alltagssprache angehören kann. Die Erfahrung der Sprache soll eine der Dichtung und der Philosophie, der Literatur und der Philosophie gemeinsame sein. Obwohl der Philosoph sich häufig auf die Erfahrung beruft, sie hinterfragt und den Begriff der Erfahrung problematisiert, gehört die Erfahrung der Sprache traditionsgemäß nicht zu seinen Themen. Die Tatsache nämlich, daß die Philosophie sich schreibt und sich in einem Idiom schreibt, wurde lange Zeit von dem Philosophen gewissermaßen geleugnet, sei es, indem er vorgab, sein Idiom auf eine universale, transparente Sprache hin zu durchqueren, sei es, daß er, und das läuft auf dasselbe hinaus, die natürliche Sprache, in der er sich ausdrückt, als empirische Zufälligkeit erachtet und nicht als eine Erfahrung, die mit der Praxis des Denkens verbunden ist. Ich glaube, man sollte so schreiben, daß der Leser oder Empfänger sich bewußt wird, was an Sprache in der Philosophie auf dem Spiel steht und was in der dichterischen Sprache an Philosophie und Denken - man kann vielleicht zwischen beiden unterscheiden - auf dem Spiel steht. Aber man sollte es tun, indem man versucht, die verschiedenen Register miteinander zu verknüpfen, gewissermaßen den Text zu komponieren, indem die Artikulation der verschiedenen Stimmen und damit die Sprache, die Philosophie in der Sprache, zu denken gibt."

    In dem Sammelband lassen sich gut die Motive von Derridas Philosophie verfolgen. Viele Leser, die einen Einstieg in diese Philosophie gewinnen wollen, werden zwar vor dem stolzen Preis des Bandes zurückschrecken. Und dennoch erweist er sich als hilfreich, um endlich einmal leicht nachvollziehbare Erläuterungen zur Dekonstruktion zu finden, deren inflationärer Gebrauch in den letzten Jahren nicht gerade zum besseren Verständnis beigetragen hat. So wird dem Leser klar, daß es sich um ein Verfahren handelt, daß nicht nur in Philosophie und Literatur Anwendung findet, sondern auch in den Bereichen Politik, Recht, Psychoanalyse, Kunst und Architektur. Dies sind jene Grenzgebiete der Philosophie, die Derrida in den letzten Jahren unablässig erkundet hat. Und es sind die Grenzgebiete, die auch in "Auslassungspunkte" immer wieder befragt werden. Daß nun auch noch ein Buch über die Religion angekündigt ist, zeigt einmal mehr: Derrida ist und bleibt ein Grenzgänger der Philosophie.