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Appell an die Grenzen unseres Handelns

Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann wendet sich mit seiner Essaysammlung "Lob der Grenze" gegen ein Denken, das keine Unterscheidungen mehr zulässt. Sein Buch plädiert für mehr Bewusstsein für Grenzen und Differenzen - jenseits aller Moral.

Von Klaus Englert | 29.04.2013
    Die vor vierzig Jahren vom Club of Rome angestoßene Diskussion über die "Grenzen des Wachstums" ist nur noch ein schwaches Echo aus weit entfernten Zeiten. Nachdem die Finanzkrise ausgestanden war, stellte sich wieder die lieb gewonnene Wachstumseuphorie ein. Von Grenzen, von Verhaltensbeschränkungen möchte niemand mehr etwas hören. Das sagte bereits Peter Sloterdijk, als er 2009, während der Klimakonferenz in Kopenhagen, den alles beherrschenden ökonomischen Antrieb als "Freiheit zur Übertreibung und zur Verschwendung" anprangerte. Desillusioniert stimmt ihm jetzt Konrad Paul Liessmann zu. Der Wiener Philosoph meint, die Nachhaltigkeits-Diskussion könne keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass die Ökonomie der Verschwendung ungebrochen fortdauert. Denn in Wirklichkeit sei unser alltägliches Verhalten von den altbekannten Parametern bestimmt:

    "Wachstum, schrankenloser Ressourcenverbrauch, Auspressung der natürlichen Ressourcen, so weit es geht, so schnell es geht, so als hätten wir keine Zukunft oder als wäre die Erde tatsächlich beliebig multiplizierbar, was sie in der Tat nicht ist"."

    Leider vergessen die Apologeten des Wachstums dabei eine unhintergehbare Tatsache, auf die der amerikanische Architekt und Visionär Richard Buckminster Fuller mit aller Nüchternheit hinwies: Das Raumschiff Erde besitzt keinen Notausgang. Sloterdijk zog daraus den nahe liegenden Schluss: Wenn die Erde eine einzige, nicht-multiplizierbare Monade ist, dann müssen wir die Überschreitung verabschieden und den Vorrang der Grenze akzeptieren (S. 107). Was bedeutet es nun, den Exzess, die Übertreibung, die Verschwendung und die Beschleunigung hinter sich zu lassen und den entgegengesetzten Weg einzuschlagen? Den Weg der Selbstbeschränkung und Sparsamkeit?

    Konrad Paul Liessmann griff diesen Gesprächsfaden auf und zeigt jetzt in seinem neuen Buch "Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft", was es bedeutet, in dem Raumschiff Erde zu leben. Wie nicht anders zu erwarten ist, stoßen wir überall auf neue Grenzen: Grenzen des Wachstums, Grenzen der natürlichen Ressourcen, Grenzen in der Beherrschung ökologischer Katastrophen, Grenzen der schnelllebigen Märkte. Liessmann verfolgt in seiner etwas heterogenen Essaysammlung das Spannungsverhältnis zwischen ordnendem Staat und freiem Markt, öffentlichem Wohl und privaten Interessen, Appellen zur Mäßigung und schrankenloser Profitgier. Nur der Staat, meint Liessmann, könne der Grenzenlosigkeit ökonomischen Denkens etwas entgegensetzen. Beispielsweise, indem er soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte garantiert. Aber das kann er nur, indem er Grenzen zieht:

    "Menschenrechte begrenzen die Handlungsmöglichkeit jener, die sich am allerliebsten nicht um die Integrität, die Bedürfnisse, die Freiheit, die Unverletzbarkeit der Körper und die Seelen der anderen scheren würden. Die werden durch die Menschenrechte in die Pflicht genommen und in ihren Machtansprüchen begrenzt und beschränkt. Und deswegen meine These, dass Grenzen in diesen Bereichen sehr oft eine Schutzfunktion haben, nämlich dass die, die schlechtere Ausgangspositionen haben, die schwach sind, die aufgrund von natürlichen Gegebenheiten, von Unglücksfällen gehandicapt sind, trotzdem die Möglichkeit eines halbwegs menschenwürdigen Daseins haben. Das Kontrollieren und Achten dieser Grenzen ist notwendig, um diese Schutzfunktion zu gewährleisten."

    Dieses Argument lässt sich auch auf den Umweltschutz übertragen: Würde sich der Staat der Ökonomisierung aller Lebensbereiche beugen, wäre es ihm unmöglich, mit Gesetzen der Umweltverschmutzung, die oft genug aus Profitgründen geschieht, wirksam zu begegnen. Liessmann betont: Von Menschen geschaffene Gesetze sind notwendig, um die schädlichen Einflüsse auf die Natur zu begrenzen. Mit anderen Worten: Je mehr die modernen Technologien universell verfügbar werden, je mehr sie auf die Umwelt einwirken, desto dringlicher wird die Notwendigkeit von Normen und Gesetzen – mithin: von Grenzen.

    "Mein Verweis auf die Menschenrechte hat versucht zu zeigen, dass ein ganz starkes Bewusstsein vorhanden war, dass Normen, moralische Imperative, Gesetze, Präskriptionen immer auch die Funktion von Grenze, von Begrenzung hatten. In sehr vielen Strömungen der Philosophie, in der antiken Stoa war es völlig klar, dass das Ethos, die Moral immer auch mit der Fähigkeit des Menschen zu tun hat, sich selbst zu begrenzen. Das halte ich für eine der interessantesten und wesentlichsten Fragen, vor der wir heute stehen – sowohl Individuen als auch Gesellschaften mit der Frage zu konfrontieren: Sollen wir uns tatsächlich selbst begrenzen?"
    Die Schrankenlosigkeit des Energieverbrauchs zerstört, wie Liessmann nachweist, jenes "Prinzip Verantwortung", das jeder gegenüber der nachfolgenden Generation, aber auch gegenüber der Natur aufbringen sollte. Es ist ein Prinzip, das im respektvollen Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt begründet ist. Angesichts der grenzenlosen Destruktionspotentiale, die in den modernen Technologien stecken, ist die Frage nach einer Individualmoral längst überholt. Auf der Tagesordnung steht heute eine Ethik, die sich den möglichen Folgen unseres Handelns stellt. Eine Ethik, die den Ort des Menschen und die Auswirkung seines Handelns neu bestimmt:

    "Denn alle diese Appelle – zum Beispiel etwas zu tun, um die Klimaerwärmung zu stoppen - sind ja letztlich Aufrufe an die Selbstbegrenzungsmöglichkeiten des Menschen. Jemand, der gewohnt war, jeden Tag auch den kleinsten Weg mit dem Automobil zurückzulegen, soll jetzt darauf verzichten und es zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen. Das ist eine Form von Askese, die wir uns offensichtlich zumuten. Und Askese ist Selbstbegrenzung."

    Der französische Wissenschaftshistoriker Michel Serres hat einmal die Weltgesellschaft mit einer Mannschaft auf einem Meeresdampfer verglichen, der in einen schweren Sturm hineingerät. Seeleute, schrieb er, "wissen, dass sie ihr Schiff, wenn sie sich untereinander entzweien, zum Untergang verurteilen, bevor sie noch die Oberhand über den inneren Gegner gewinnen." Die Passagiere des Raumschiffs Erde befinden sich in einer vergleichbaren Situation. Zurzeit sieht es nicht danach aus, dass sich die Besatzung und die Passagiere des Raumschiffs darauf verpflichten wollten, gemeinsame Ziele zu verfolgen, um das Risiko ihres Untergangs zu verringern.

    Die von Liessmann beschriebene Dominanz ökonomischen Denkens, die Regeln von Markt und Wirtschaft gelten nur für die Seeleute. Dem Ozean und dem drohenden Orkan sind sie gleichgültig. Es entspricht unserem anthropozentrischen Denken, Natur als unerschöpfliche Quelle gesellschaftlichen Reichtums zu betrachten. Deswegen appelliert Konrad Paul Liessmann, angesichts der Lebensmöglichkeiten auf diesem Planeten, an die Grenzen unseres Handelns. Und fordert einen ethischen Imperativ, der auf den Fortbestand von Mensch und Natur zielt. Denn auf dem Spiel steht nicht unser augenblicklicher Wohlstand, sondern weit mehr: die Zukunft als letzter Sinnhorizont verantwortlichen Handelns.

    Konrad Paul Liessmann: "Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft",
    Wien 2012 (Paul Zsolnay Verlag), 207 S., 18,90€.