Dienstag, 16. April 2024

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Appell an die künftige Bundesregierung
Wissenschaftler fordern "Neustart" bei der Energiewende

Mehrere Wissenschaftler fordern die künftige Bundesregierung in einem Papier zum "Neustart" bei der Energiewende auf. Die Politik müsse konsequent von erneuerbaren Energien aus gedacht werden, sagte Mitverfasser Dirk Uwe Sauer im Dlf. Das könne nicht zum Nachteil für Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt sein.

Dirk Uwe Sauer im Gespräch mit Jule Reimer | 14.10.2021
Sonnenblumen blühen im Landkreis Peine. Im Hintergrund sind Windkrafträder und das Kohlekraftwerk Mehrum zu sehen.
Bisher sei die Einführung der erneuerbaren Energien immer in das bestehende System hinein vorgenommen worden, meint Physiker Dirk Uwe Sauer. Das System müsse stattdessen neu gedacht werden. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
Priorisierung des Klimaschutzes beim nationalen politischen Handeln, verstärkte europäische und globale Zusammenarbeit, Sozialverträglichkeit - Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen fordern einen "Neustart" bei der Energiewende. Dieser müsse konsequent am Ziel der Treibhausgasneutralität ausgerichtet sein, heißt es in einem Impulspapier der Initiative "Energiesysteme der Zukunft" (ESYS).
Die neue Bundesregierung habe die einmalige Chance für diesen Neustart - aber auch die Verpflichtung. Treffe sie nicht schnell wegweisende Entscheidungen, seien die deutschen Klimaziele für 2030 und 2045 kaum mehr zu erreichen.

"Neustart bedeutet, dass wir das System neu denken müssen"

Es müsse nun von den erneuerbaren Energien her gedacht werden, statt sie wie bisher nur in das bestehende System zu integrieren, meint Dirk Uwe Sauer, einer der Mitverfasser und Professor für Elektrochemische Energiewandlung und Speichersystemtechnik an der RWTH Aachen. Strom müsse als die primäre Energiequelle angesehen werden. Das Endprodukt Strom sei heute durch viele Abgaben und Steuern so teuer, dass es sich oftmals gar nicht rechne - das müsse sich ändern.
Der Appell sei aber auch ein optimistischer, sagte Sauer im Dlf. Deutschland sei für einen Neustart in der Energiewende gut vorbereitet, es gebe ein gut gefülltes Portfolio von Technologien, die jetzt ausgerollt werden könnten. Daher könne diese Wende gelingen und "unter dem Strich dann auch nicht zum Nachteil der Gesellschaft und der Wirtschaft auch insgesamt" sein. Die Politik müsse hierfür Rahmenbedingungen setzen, "das Ausfüllen können dann Gesellschaft und Industrie sehr gut miteinander tun".
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Das Interview zum Nachlesen:

Jule Reimer: Reset in der Energiepolitik eines Top-Industrielandes mit mindestens 70 Jahren gewachsenen Wirtschaftsstrukturen – klingt das nicht doch ein bisschen wahnsinnig?
Dirk-Uwe Sauer: So wahnsinnig, glaube ich, ist es aber nicht, weil wir haben uns ja auch darauf vorbereitet. Man muss ja sagen, wir bereiten uns ja auf diese Sachen technologisch und auch in der Industrie seit 40 Jahren vor. Das heißt, wir haben ein gut gefülltes Portfolio von Technologien, die jetzt ausgerollt werden können. Und wir versuchen ja schon auch, deutlich zu machen und den Optimismus deutlich darzustellen, dass diese Wende eben gelingen kann und dass sie unter dem Strich dann auch nicht zum Nachteil der Gesellschaft und der Wirtschaft auch insgesamt sein wird.
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"Strom als die primäre Energiequelle ansehen"

Reimer: Was heißt Neustart konkret?
Sauer: Neustart bedeutet, dass wir das System neu denken müssen. Bisher ist gerade die Einführung der erneuerbaren Energien quasi immer in das bestehende System hinein vorgenommen worden, das heißt, man hat die Regularien, die Gesetze insoweit immer angepasst, um eben letzten Endes diese Entwicklung zwar ein Stück voranzutreiben, aber sie nicht von diesem neuen Energiesystem her zu denken.
Praktisch bedeutet das, dass wir den Strom als die primäre Energiequelle ansehen müssen, und das bedeutet eben auch, dass wir sie zum Beispiel, was das Regulatorische, was das Steuerliche angeht, wirklich als ein primäres Produkt und nicht als ein Endprodukt sehen müssen. Das Endprodukt Strom ist heute durch viele Abgaben, Steuern so teuer, dass es sich oftmals eben zum Beispiel in Heizungssystem gar nicht rechnet. Da müssen wir dran!
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"Politik muss Rahmen setzen"

Reimer: Sie fordern eine zentrale Steuerung durch die Regierung, würde ich mal vermuten, und gleichzeitig mehr Möglichkeiten zur Mitbestimmung. Wie soll das funktionieren?
Sauer: Ja, die zentrale Steuerung bezieht sich vor allen Dingen auf Randbedingungen. Das heißt, die Energiewirtschaft insgesamt hat immer sehr stark davon profitiert und letzten Ende deswegen auch nur ziemlich günstige Energiepreise ermöglicht, weil es sehr langfristige Perspektiven und Investitionszeiträume gegeben hat. Und genau hier muss die Politik Rahmen setzen, also festlegen zum Beispiel eben, wie das mit der Versorgung der Heizungssysteme in der Zukunft aussehen wird, wie sollen die Lkws in Zukunft auf den Straßen mit Energie versorgt werden, mit Strom, mit Oberleitung, mit Batterie, mit Wasserstoff.
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Diese Rahmenbedingungen, das sind Dinge, die die Politik setzt, das Ausfüllen können dann Gesellschaft und Industrie sehr gut miteinander tun. Aber wichtig ist eben auch hier, sicherzustellen, dass wir die Bevölkerung mitnehmen. Die Transformation ist derart grundlegend und wird alle Bereiche, alle Bevölkerungsschichten betreffen, dass es einfach notwendig ist, in die Diskussion ganz frühzeitig hineinzugehen, um damit eben auch die Akzeptanz zu schaffen.

"Es geht bei der CO2-Besteuerung nicht darum, die Staatskasse zu füllen"

Reimer: Jetzt sind Investitionen in klimafreundliche Systeme noch sehr teuer, das gilt für Unternehmen im großen Stil, aber auch für so einen Hausbesitzer, dessen Haus vor 50 Jahren gebaut worden ist. Da kommen schnell an die 100.000 oder mehr Euro zusammen. Wie soll das dann bezahlt werden?
Sauer: Die Investitionen, die getätigt werden müssen, sind an manchen Stellen teuer, an manchen aber auch gar nicht so sehr. Nehmen wir mal die Stromversorgung, Strom mit Photovoltaik heute zu erzeugen, ist die günstigste Weise, wie wir heute Strom erzeugen können, wenn wir es auf großen Freifeldern tun. Wenn man es auf dem eigenen Hausdach macht, ist der Strom aus den eigenen Photovoltaikanlagen wesentlich günstiger als der, der einem aus dem Stromnetz bereitgestellt wird.
Es ist so, dass alle Investitionen, die zwar getätigt werden müssen am Anfang mit einem hohen Investitionsvolumen, das ist richtig, sich aber teilweise relativ schnell wieder auszahlen. Trotz alledem ist es klar, dass es hier vor allen Dingen zu sozialen Härten kommen wird, weil natürlich eine Steigerung der Energiepreise oder auch diese Investitionen auch in Mietgebäuden diejenigen deutlich mehr treffen, die geringere Einkommen haben.
Und deswegen plädieren wir auch sehr stark dafür, dass die Einnahmen, die über die CO2-Preise kommen, wirklich verwendet werden, um eben in diesen sozialen Ausgleich zurückzugehen, auch um der Bevölkerung klarzumachen: Es geht hier zum Beispiel bei der CO2-Besteuerung nicht darum, die Staatskasse zu füllen, sondern das ist ein Lenkungsinstrument, aber die Einnahmen daraus werden wieder zurückgegeben.
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Reimer: Ich würde gerne noch mal auf die Unternehmen kommen. Sie schlagen vor, wenn Unternehmer in teure, klimafreundliche Systeme investieren, dass dann CO2-Differenzverträge gemacht werden. Können Sie das mal erklären?
Sauer: Ja, wenn Unternehmen heute in CO2-freie Technologien investieren, dann sind sie unter Umständen, weil sie ihrer Zeit in gewisser Weise noch voraus sind, teurer als ihre Wettbewerber im nationalen oder internationalen Geschäft, die noch auf fossile Energien setzen. Da es aber wichtig ist, diese Investitionen jetzt zu tun, weil oftmals die ja zehn, 20, manchmal 30 Jahre lang tatsächlich dann noch wirksam bleiben, sollen eben diese Mehrbelastungen gegenüber dem Wettbewerb ausgeglichen werden. Und das sind diese Differenzverträge.
Reimer: Durch den Staat?
Sauer: Ja, durch den Staat – beziehungsweise eben durch die Gesamtheit derjenigen, die Energie finanzieren, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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