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Arabisches Galapagos

In einem bunt karierten Wickelrock steht Mohammed al-Amer an der Klippe und beobachtet die Fischschwärme im türkis leuchtenden Meer. Er blickt nach Norden, in Richtung der arabischen Halbinsel. 350 Kilometer wilder Ozean trennen ihn vom jemenitischen Festland, dem Land, zu dem seine Heimat, die Insel Sokotra, gehört. Wie ein abgebrochener Splitter vom Horn von Afrika liegt Sokotra im Indischen Ozean. Millionen Jahre war dieses Meer ein schier unüberwindliches Hindernis. Sokotra war eine Welt für sich.

Von Susanne Sporrer und Klaus Heymach | 06.01.2008
    Der Anfang vom allmählichen Ende dieser Einsamkeit liegt noch nicht lange zurück. Erst seit 1999 gibt es einen Flughafen, der eine regelmäßige Verbindung zur Außenwelt garantiert. Dadurch hat sich Mohammeds Leben radikal verändert. Während die Familie des 34-Jährigen noch von Datteln und Ziegen in den Bergen Sokotras lebt, fährt Mohammed in einem alten Land-Cruiser Ausländer über die Insel, Forscher und die ersten Touristen.

    "Früher waren wir fast isoliert von der Welt. Damals, so wird erzählt, haben sich die Leute hier gewünscht, Gott möge von ihnen fern halten, was hinter dem Meer ist. Als lebten wir allein auf dieser Welt, und der Rest ist alles nur Wasser. Heute lernen wir die Kultur und Bräuche der anderen kennen und leben in Frieden mit ihnen. Jetzt gilt Sokotra als sehr viel versprechend für die touristische Entwicklung im Jemen. Wir haben hier alles: tolle Landschaften, das Meer, schöne Küsten, Flüsse und Seen, in denen man gut schwimmen kann, weil sie sauber sind. Gott sei Dank. Gott hat uns durch die Schönheit der Insel zu etwas Besonderem gemacht, weil wir so weit weg von allem sind."

    Sokotra, vier Mal so groß wie Rügen, ist eine Schatzkammer der Evolution. Durch ihre Abgeschiedenheit entwickelten sich auf der Insel Pflanzen und Tiere, die an keinem anderen Ort der Welt zu Hause sind. 30 Prozent der Pflanzen, 75 Prozent der Reptilien und 80 Prozent der Insekten sind einzigartig auf Sokotra. Und längst sind noch nicht alle Arten erforscht.

    Die Fahrt durch das Wunderland beginnt auf einer staubigen Piste entlang der Nordküste. Links das Meer, rechts ein Märchenwald mit zart rosa blühenden Wüstenrosen. Die Stämme der giftigen Pflanze sehen aus wie geschwollene Elefantenbeine. Sie speichern das Wasser für die Trockenzeit.

    Von der Küste steuert Mohammed seinen Land-Cruiser hinauf in die Berge, dorthin, wo das Wahrzeichen der Insel wächst: der Drachenblutbaum. In Kopfhöhe verzweigt sich der knorrige Stamm zu einer pilzartigen Krone. Ihr Dach ist mit grünen Blättern überzogen, die wie Stacheln in den Himmel ragen. Ein bisschen Kratzen an der Rinde genügt, und schon kommt das "Blut" zum Vorschein, das einst bei Medizinern und Malern heiß begehrte knallrote Harz des Drachenblutbaumes. Mohammed erzählt die Legende der Inselbewohner, wie dieser bizarre Baum nach Sokotra kam.

    "Kain und Abel hatten Streit miteinander, richtig großen Streit. Sie schlugen sich. Sie gingen aufeinander los, mit Messern und Eisenstangen. Sie kämpften so lange, bis Blut floss, sehr viel Blut. Dieses Blut tropfte auf die Berge von Sokotra. Und daraus wuchs dieser Baum, der einzigartig ist in der Welt, der Baum, den wir "Blut der beiden Brüder" nennen."

    Im Schatten eines Drachenblutbaumes sitzen Frauen und scheren Ziegen. Im Gegensatz zu den Jemenitinnen auf dem Festland sind sie nicht schwarz verhüllt, sondern tragen geblümte Kleider in leuchtenden Farben. Ihre Gesichter haben sie gelb bemalt. Barfuß kommen ihre Kinder angelaufen und zeigen den Ausländern das rote Baumharz, das sie gesammelt haben. Für diese Kinder ist es schon normal, ab und an einen Fremden zu sehen. Mohammed dagegen war bereits erwachsen, als er zu Beginn der 90er Jahre erstmals Ausländer traf. Damals wurde er engagiert, um dem ersten Forscherteam, das Sokotra besuchte, die Insel zu zeigen. Der aus Algerien stammende Abdulkader Bensada vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen war einer dieser Pioniere. Er lebte sieben Jahre lang auf der Insel.


    "Nach all unserer Forschung und all den Informationen, die wir von 1998 bis 2001 gesammelt haben, sind wir auf einzigartige Daten gestoßen. Deshalb gilt Sokotra jetzt als drittwichtigste Insel in der Welt, nach den Galápagos- und den Fernandez-Inseln. Es ist eine der Top Inseln der Welt, was die Biodiversität und Pflanzenvielfalt angeht. Es ist ein Welterbe, nicht etwas einzigartiges für Sokotra oder für den Jemen, sondern für die Welt."
    Und diese Einzigartigkeit soll bewahrt werden. Die Wissenschaftler erarbeiteten gemeinsam mit den Inselbewohnern einen Plan, teilten Sokotra in Zonen ein. In solche, in denen Straßen gebaut, Landwirtschaft betrieben oder gefischt werden kann. Und jene, die unter absolutem Schutz stehen, weil seltene Vögel dort brüten oder besondere Pflanzen gedeihen. Im Jahr 2000 stellte der jemenitische Präsident rund drei Viertel der Insel per Dekret unter Naturschutz. Soweit die Theorie. Tatsächlich müssen Naturschützer wie Abdulkader Bensada beständig gegen die Zerstörung Sokotras ankämpfen.

    "Es ist alles sehr, sehr fragil. Also wenn wir nicht dort wären, dann hätten sich Superreiche und Geschäftsleute ganz Sokotra unter den Nagel gerissen und Fünf-Sterne-Hotels wie in Scharm el-Scheich oder auf Ibiza gebaut. Und wir hätten verschwinden müssen. Aber wir sind dort und kontrollieren ein bisschen, damit es möglichst wenig Schaden gibt."

    Die größte Bedrohung für die Insel ist derzeit der Straßenbau, der einzig Bauunternehmern und korrupten Beamten nützt. Eine vierspurige, 50 Millionen Dollar teure Straße soll künftig rund um die Insel führen. Dabei gibt es auf Sokotra gerade einmal 700 Autos für die 60.000 Bewohner. In der Inselhauptstadt Hadibu sind schon ein paar Kilometer der Autobahn fertig. Benutzt wird sie überwiegend von Ziegen.

    Noch ist die Insel ein Paradies. Der Tag in diesem Paradies beginnt mit einem Konzert nie gehörter Vogelstimmen. Aus dem Zelt eröffnet sich am östlichsten Kap Sokotras ein Blick auf eine bizarre Landschaft: Im Rücken ein Berg, darin eine Höhle mit einem Wasserfall.

    An die Felsen schmiegen sich riesige Dünen aus feinstem weißem Sand, der am Fuß des Berges mit saftigem Gras bewachsen ist. Durch den Rasen plätschert ein kühler Bach, am Ufer dekoriert mit Felsen und duftenden lila Blümchen. Der Bach fließt über einen breiten Strand ins Wellen werfende Meer. Tellergroße weiße Krebse haben den Strand über Nacht mit Sandpyramiden verziert.

    Vielleicht saß Marco Polo hier, als er schrieb, die Inselbewohner seien allesamt Zauberer, die die Natur verhexten. Auch sieben Jahrhunderte nach dem Besuch des venezianischen Weltreisenden kann man sich auf Sokotra noch immer wie der Entdecker einer einsamen Insel fühlen.

    Beim Entdecken helfen Einheimische, die zum Beispiel den Weg zu Tropfsteinhöhlen vorbei an Weihrauchbäumen weisen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen hat 30 Soqotris zu Naturführern ausgebildet. Diese Ausbildung ist Teil des Projekts für einen sanften Ökotourismus. Einen Tourismus, der Natur und Kultur respektiert. Und von dem nicht die großen Reiseveranstalter auf dem Festland profitieren sondern die Insulaner.

    Wie beispielsweise der alte Mann mit dem rot gefärbten Bart. Über den mit Muscheln und Korallen bedeckten Strand schreitet er sein Revier ab, die Bucht Dihamri. Als Vertreter seines Dorfes betreibt er den kleinen Campingplatz am Strand, auf dem einfache Unterstände aus Stroh Urlaubern Schutz bieten. Die umgerechnet vier Euro für Übernachtung und Essen fließen in die Dorfkasse.

    Mohammed, der Fahrer, und der Alte begrüßen sich, indem sie die Nasen aneinander reiben. So ist das auf Sokotra unter Männern üblich.

    Auch Mohammed macht sich Gedanken, wie ein nachhaltiger Tourismus auf der Insel aussehen könnte.
    "Alle Touristen, die nach Sokotra kommen, sollten für ihre Tour einen Führer von hier engagieren. Das hilft den Inselbewohnern am meisten, so profitieren alle. Außerdem wissen die lokalen Führer viel über die Sitten und Gebräuche auf der Insel, die Pflanzen, Bäume, Vögel und Sehenswürdigkeiten. Aber wir haben Angst vor der Zukunft, sehr sogar. Die Touristen könnten die Menschen auf falsche Gedanken bringen, ihnen schlechte Vorbilder sein. Deshalb ist es sehr wichtig, dass jeder, der nach Sokotra kommt, unsere Sitten und Gebräuche respektiert."

    1500 Ausländer kamen im vergangen Jahr auf die Insel. Das ist vermutlich mehr als im ganzen 20. Jahrhundert. Aber im Sommer ist es für die Sokotris auch heute noch immer wieder ein bisschen wie früher. Keine Europäer wandern dann durch ihre Berge und fotografieren ihre Drachenblutbäume. Die Stürme, die zwischen Mai und September über den Archipel fegen, sind schlicht zu heiß für die Urlauber. Und selbst auf dem neuen Flughafen können dann an manchen Tagen keine Flugzeuge landen. Dann wird das Meer wieder zum Ende der Welt.