Krämer: Guten Morgen.
Forudastan: Dass die Palästinenserspitze sich jetzt so intensiv damit auseinandersetzt, was nach der Ära Arafat geschehen kann oder soll, heißt das, der Palästinenserpräsident wird, auch wenn er wieder gesund wird oder auch wenn er sich wieder erholt einigermaßen, nichts mehr zu sagen haben?
Krämer: Wenn er wieder gesund wird, kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Dafür ist sein Prestige, dafür ist seine Stellung zu stark, dafür sind auch seine Bindungen, Beziehungen, Klientelbeziehungen auch in unterschiedlichste Teile der palästinensischen Bevölkerung viel zu kräftig. Das heißt, ein gesunder, ein handlungsfähiger Arafat würde sich vermutlich nicht bieten lassen, dass man ihn entmachtet und sich nicht mit der Stellung begnügen, die ihm Außenstehende und zwar wohlmeinende Außenstehende schon zugedacht haben, nämlich die eines mehr oder weniger nichtssagenden Präsidenten.
Forudastan: Dass diese führenden Palästinenser nun zusammengekommen sind und beraten darüber, was man nun macht, wenn Arafat nicht mehr wieder kommt oder jedenfalls nicht mehr so handlungsfähig zurückkommt, bedeutet das, dass diese Leute davon ausgehen, dass er nicht mehr kommt?
Forudastan: Also man würde doch jedem Politiker, vor allem in der schwierigen Lage, in der die Palästinenser sich befinden, raten, sich auf unterschiedlichste Entwicklungen vorzubereiten. Das tun sie und das kann man ja nur als politische Klugheit verzeichnen. Ich nehme auch an, dass sie, auch wenn sie selbst keine Mediziner sind, mit Schlimmem rechnen, also damit, dass Arafat zumindest längere Zeit außer Gefecht sein wird und vielleicht tatsächlich nicht mehr als handlungsfähiger Politiker zurückkehren wird und daher müssen sie planen, müssen sie vorbereiten, damit nicht das passiert, was andere für Palästina voraussagen, nämlich schwerste Unruhe, wenn nicht überhaupt Chaos.
Forudastan: Gesetzt den Fall, dass die Krankheit Arafat nachhaltig schwächt oder dass er vielleicht sogar stirbt, was bedeutet das für die Palästinenser?
Krämer: Es ist viel gesagt worden und ich glaube auch vollkommen richtig. Er ist ein Symbol, ein Symbol für das palästinensische Volk, auch wenn er nicht jeden Palästinenser vertritt selbstverständlich, ein Symbol für den palästinensischen Freiheitskampf. Und in dieser Symbolrolle kann er nicht ersetzt werden. Sie können keinen Propheten ersetzen, Sie können keine Freiheitskämpfer, keine legendären ersetzen und insofern kann er hier keinen Nachfolger haben. Was nicht heißt, dass nicht die politische Führung unter den Palästinensern besetzt werden kann und natürlich besetzt werden muss. Aber die Person mit der ganzen Aura, die ihn umgibt, der positiven für viele und der negativen für andere, die wird gegebenenfalls dann verschwinden.
Forudastan: Sie sprachen eben von Chaos, dass möglicherweise ausbrechen würde, wie könnte es dazu kommen?
Krämer: Nein, ich persönlich glaube daran überhaupt nicht, es wird nur immer wieder auf arabische Gesellschaften projiziert. Jedes Mal, Sie werden das vielleicht auch beobachtet haben, wenn ein bedeutender arabischer Führer stirbt, wird von Beobachtern vor allem außerhalb der arabischen Welt befürchtet, nun breche Chaos und die totale Unordnung aus, Bürgerkrieg womöglich. Das war nach dem Tode Nassers, nach dem Tode Bumediens, Hassans dem Zweiten, Hussein von Jordaniens, Hafet al Assads und nie ist es dazu gekommen, weil nämlich die Führung in den arabischen Ländern selber die sogenannte Straße, das einfache Volk fürchten und weil sie genauso wenig Interesse haben an Unordnung, Unruhe, Chaos wie alle anderen. Das heißt, ich glaube wir selber müssen uns von der Vorstellung befreien, dass Chaos ausbricht, wenn ein bedeutender arabischer Führer stirbt.
Forudastan: Könnte es denn zu einem Machtkampf kommen oder wird es zu einem Machtkampf kommen? Denn es ist ja schon seit einiger Zeit so, dass innerhalb der Palästinenser verschiedene Gruppierungen um Einfluss ringen.
Krämer: Also dieses Ringen um Einfluss ist ganz unvermeidlich, da Arafat seine Nachfolge ja nicht bestellt hat und nicht klar gesagt hat wie er sich das vorstellt und auch nicht zugelassen hat, dass sich vorher schon potentielle Nachfolger formieren und die Dinge gewissermaßen ordnend vorbereiten. Also, um einen Machtkampf wird es nicht herumgehen, aber die Frage ist natürlich, wie der ausgetragen wird.
Und dann dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass das Gebiet, um das es sich handelt, unter israelischer Besatzung steht und daher auch die Palästinenser überhaupt kein Interesse daran haben, dass dieser Machtkampf womöglich blutig ausgetragen mit, also mit Gewalt. Also ihre eigene politische Klugheit gebietet ihnen zwar, einen gewissen Machtkampf nicht völlig für ausgeschlossen zu halten, aber in solchen Bahnen zu halten, dass es niemandem den Vorwand gibt, hier zu intervenieren.
Forudastan: Nun hat ja Israel immer gesagt, dass Arafat im Grunde genommen das Haupthindernis dafür sei, dass man zu einem Frieden mit den Palästinensern kommt. In dieser Logik müsse das ja bedeuten, wenn Arafat von der politischen Bühne verschwindet, dass dann die Chancen auf einen Frieden steigen.
Krämer: Ja, politisch gesehen muss man das so sehen. Ich zögere jetzt ein bisschen, weil ich finde es extrem pietätlos, vor dem Tod eines Menschen darüber zu spekulieren, ob der einem nicht etwas Positives bringt.
Forudastan: Ja, aber vielleicht, man kann ja auch sagen, auch wenn er jetzt einfach nicht mehr die Amtsgeschäfte so wahrnehmen kann.
Krämer: Wenn er mehr oder weniger handlungsunfähig in Ramallah sitzt, ist das eine enorme Belastung für alle Beteiligten, für ihn selber und für die anderen, weil dann, nehme ich an, die führenden Palästinenser nicht wagen werden, entscheidende neue Schritte zu ergreifen. Also in der Anwesenheit, der physischen Anwesenheit des Führers etwas zu tun, von dem sie wissen, dass er es missbilligt oder von dem sie befürchten, dass er es missbilligt. Das heißt, das wäre eine lähmende und gelähmte Situation und man kann nur hoffen, dass es dazu nicht kommt, meine ich jedenfalls.
Würde er tatsächlich sterben und nochmals, ich finde das pietätlos, dann würde meines Erachtens aber tatsächlich eine gewisse Chance bestehen, weil auf jeden Fall diese Person, die von manchen so negativ belegt wird, nicht mehr im Wege stünde und andere freier agieren könnten.
Forudastan: Gehen Sie denn davon aus, dass auch Israel mit weniger Vorbehalten an diese neue Person heranginge, diese Chance tatsächlich nutzen würde?
Krämer: Also, wenn es die Personen sind, die jetzt im Vordergrund stehen, dann ja, weil es zu ihnen bereits Kontakte gibt, ein gewesener Ministerpräsident, ein jetziger Ministerpräsident, die für die israelische Führung einfach als Personen weniger anstößig sind und die auch von ihrem ganzen politischen Verhalten her letztlich geschmeidiger sind als Arafat es war und auch wohl je werden wird. So dass hier tatsächlich auf der Ebene, wahrscheinlich der ganz persönlichen Ebene aber auch der im weiteren Sinn politischen Ebene sich tatsächlich Chancen ergeben könnten.
Forudastan: Was würde es denn für den Raum rund um Palästina und Israel herum, also die arabische Welt bedeuten, wenn Arafat nun nicht mehr so auf die politische Bühne zurückkehrt, wie er das noch bis letzte Woche war?
Krämer: Also wenn er einfach schwer krank und handlungsunfähig zurückkehrt, dann bedeutet das auch für die umliegenden Länder keine Veränderung, auf keinen Fall eine Veränderung zum besseren. Würde er tatsächlich sterben, würde er, glaube ich, tief betrauert, einfach als Person, vergleichbar einem Mao, vergleichbar anderen großen Führern, die viele Leute nicht im politischen jeweils gut geheißen haben, die sie aber bewundern und die für etwas stehen und deren Tod als Verlust empfunden wird. Also da würde ich mich dann auf große Kundgebungen und auch sehr viel Trauer und zwar echt empfundene Trauer einstellen. Politisch gesehen würde es für die umliegenden Araber etwas Ähnliches bedeuten wie für die Palästinenser selber, nämlich dass sich möglicherweise in diesem so schwierigen, so vertrackten Konflikt etwas bewegt und zwar ausnahmsweise in eine bessere Richtung.
Forudastan: Etwas bewegt, weil auch der Kontakt zwischen den anderen Führer in der arabischen Welt und der neuen, dann neuen Palästinenserspitze besser würde oder warum?
Krämer: Das könnte ich mir auch noch vorstellen, Arafat ist, ich wiederhole mich hier ein bisschen, eine Symbolfigur, verehrt, in vieler Hinsicht unantastbar. Gleichzeitig aber sind seine Beziehungen zu einer ganzen Reihe arabischer Führer zumindest sehr gespannt, zum Teil auch richtiggehend belastet und ein Nachfolger hätte diese ganze Bürde der Vergangenheit nicht mitzutragen, also von daher würde sich hier vielleicht auch einiges entkrampfen. Aber vor allen Dingen könnte man hoffen, dass es im israelischen-palästinensischen Verhältnis vorangeht und das würde selbstverständlich auch auf die umliegenden arabischen Länder positiv zurückwirken.
Forudastan: Professor Gudrun Krämer, Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, danke schön für das Gespräch.

