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Arbeitslos, orientierungslos, obdachlos, ausweglos, würdelos

Es sind die Geschichten von drei Frauen, die sich durchschlagen, nach dem sie nichts mehr haben. Erst der Job, dann die Wohnung weg. Es kann jede treffen, egal ob in Nairobi, Tallinn oder München. Das erzählt das Stück "Ilona. Rosetta. Sue".

Von Rosemarie Bölts | 19.10.2013
    Soviel Europa, soviel internationale Kulturanleihen auf einmal, kann das gut gehen auf einer Stadttheaterbühne wie den Münchner Kammerspielen? Filmadaptionen solch schräger Typen wie dem Finnen Aki Kaurismäki, den Dardenne-Brüdern aus Belgien und dem melancholischen Amos Kollek aus Israel in einem Stück, das vom deutschen Regisseur Sebastian Nübling, der Kammerspiel-Dramaturgin Julia Lochte und dem estnischen Dramaturgen Eero Epner bearbeitet wurde? Hat der Intendant der Münchner Kammerspiele, Johan Simons, bei seinen eigenen Regiearbeiten nicht schon zur Genüge bewiesen, dass die Kooperationsabsicht mit ausländischen Theatern ehrenvoll, aber die Durchführung mit - in seinem Fall holländischen - Schauspielern jedes Mal eine Bruchlandung bedeutet? Ist da wirklich mehr als Voyeurismus im Spiel, wenn in dem schnörkeligen Jugendstiltheater mitten im Münchner Schicki-Micki-Ambiente zwischen Reich und Superreich eine schonungslose Sozialstudie darüber aufgeführt wird, was Arbeitslosigkeit aus Menschen macht, egal, wo, in welchem Land und in welcher Sprache?

    Eindeutig ja.
    Zupackend, resolut, liiert mit dem Pechvogel Lauri ist da Ilona, gespielt von der Kongolesin Starlette Mathata vom Brüsseler Theater KVS. So lange lebenstüchtig, bis sie ihren Job als Kellnerin verliert, weil das Tanzlokal "Dubrovnik" an eine "Food"-Kette verkauft wird. Rosetta wiederum, gespielt von der Estin Mirtel Pohla vom Talliner Theater NO 99, strampelt sich im wahrsten Sinne des Wortes mit schnellem Schritt und schlagender Wut ab, um irgendeinen Job zu erbetteln und aus dem Wohnwagenelend mit ihrer im Suff und Straßenstrich gelandeten Mutter rauszukommen. Das Münchner Kammerspiel-Ensemble-Mitglied Wiebke Puls verkörpert die ätherische Sue, die in ihrem akademischen Statusdenken gefangen ist und auch optisch in weißer Seidenbluse, dunkelblauem Rock und Pumps etwas Besseres darstellen will, aber einsam von einer zur nächsten "Zufallsbekanntschaft" stolpert.

    Es ist eine europäische Erzählung, die Regisseur Sebastian Nübling zwei Stunden lang ohne Pause webt, weil doch das globalkapitalistische Wirtschaftssystem alle überall im Griff hat. Eins bedingt das andere, und alles gehört zusammen: arbeitslos, orientierungslos, obdachlos, ausweglos, würdelos.

    Es genügt eine leere Bühne, ein schwarzes Loch, in das symbolisch alle tief fallen werden, diagonal durchschnitten von einem langen Tisch, um Realitäten zu demonstrieren: eine Großküche, in der im Akkord Möhren geschabt werden. Die Enge des Wohnwagen-Stockbetts. Der Tresen, an dem das letzte Ersparte verspielt und Bier zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage getrunken wird.

    Es ist eben keine Schwarz-Weiß-Holzhammer-Inszenierung, sondern ein sinnliches, körperbetontes, rundherum spielfreudiges Theater, das durchweg von Erster-Klasse-Schauspielern geboten wird, egal, von welchem Theater und aus welchem Land. Und dass jeder Schauspieler seine, beziehungsweise ihre Heimatsprache spricht, wäre wohl noch nicht einmal ohne deutsche Übertitelung ein Manko. Im Gegenteil, es betont die Authentizität und die Universalität der sozialen Perspektive.

    Es geht bei "Ilona. Rosetta. Sue" und den anderen mal nicht - wie bei den Erzählungen über Banker und Staatsbankrott - um den wirtschaftlichen Ruin, sondern um das ganz persönliche, existenzielle Elend, das systemische Ursachen hat und politisch in Kauf genommen wird.

    Sebastian Nübling hat das Kunststück vollbracht, aus drei melodramatischen Einzelschicksalen ein politisches Aufklärungstheater zu inszenieren. Und das ist sehr gut gelungen.