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Arbeitslos - sinnlos?

Die drohende Arbeitslosigkeit stürzt viele Menschen in seelische Krisen, lässt sie den Sinn des Lebens, Normen und Leitbilder hinterfragen. Die Folgen der aktuellen wirtschaftlichen Situation auf die seelisch-geistige und soziale Entwicklung standen im Mittelpunkt des diesjährigen Psychotherapieseminars in Aachen.

Von Barbara Weber | 11.03.2010
    "Mit 57 wurde ich arbeitslos. Ich kann mir das vorstellen, es ist bei vielen die Existenz."

    "Klar ist das bei der heutigen Arbeitsmarktlage ziemlich schlimm, und da wissen manche nimmer, wie sie sich rausbugsieren können, ohne Arbeit und Familie und sonstiges eben."

    "Probleme mit dem Partner."

    "Verschuldung."

    Passanten unter dem Eindruck der Quelle Insolvenz in Fürth.

    Die Uhr tickt: Wann werde ich entlassen, fragen sich viele. Wie lange kann ich das noch durchhalten, die Mehrarbeit, um den Job vielleicht doch zu behalten? Und: Sollte ich mir lieber keine Blöße geben und tun, als wäre alles in Ordnung?

    "Als Psychiater und Psychotherapeut ist man konfrontiert mit Menschen, die unter dem Einfluss der Krise selber eine seelische Störung entwickelt haben","

    … beobachtet Professor Henning Saß, Facharzt für Psychiatrie und Ärztlicher Direktor Universitätsklinikum Aachen.

    ""Die äußere Belastung: Arbeitsplatz verloren, finanzielle Sorgen, soziale Anerkennung geht zurück, führt dazu, dass bei seelisch labilen Menschen eine psychische Störung entstehen kann, ein depressives Syndrom, ein Angstsyndrom, dass versucht wird, über Alkohol und Medikamente die Sorgen zu dämpfen und auf diese Weise eine Abhängigkeitserkrankung entstehen kann. Es gibt eine Reihe von psychischen Erkrankungen, die dann ausbrechen, wenn bei einem dazu disponierten, seelisch nicht besonders stabilen Menschen eine starke Belastung aus der sozialen Umwelt kommt. Und das spüren wir."

    Und Professor Siegfried Gauggel, Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie an der RWTH Aachen ergänzt:

    "Die Themen, die die Patienten bringen in den Therapien, sind ähnlich. Sie sind nur häufiger. Häufiger ist jetzt das Thema Arbeitslosigkeit, Zukunftsperspektiven, Sorgen um die Familie, um das soziale Leben. Das ist etwas, was dann sicherlich zunimmt, auch Ängste, die kommen, weil in der Firma über Arbeitsplatzabbau diskutiert wird und eben am Anfang noch keiner weiß, wer wird abgebaut."

    Mancher aus der Kriegsgeneration kann über solche Sorgen nur den Kopf schütteln und fragt sich, warum seelische Leiden in unserer Wohlstandsgesellschaft zunehmen. Auch mancher europäische Nachbar blickt irritiert auf die Bundesrepublik. Denn objektiv gesehen geht es den Deutschen besser als jemals zuvor.

    Die Erklärung, meint Siegfried Gauggel, liegt weniger in objektiven Tatsachen als im subjektiven Empfinden:

    "Insgesamt als Gesellschaft: Wir sind weniger trainiert sicherlich. Also die Herausforderungen, die unsere Oma und Opa hatten, waren andere, gravierendere: gravierende Umbrüche, Lebensbedrohlichkeiten. Das ist sicherlich heute nicht mehr so der Fall. Uns fehlt zum Teil das Training, weil wir eine größere Sicherheit haben, glücklicherweise eine größere Sicherheit. Aber wenn dann größere Veränderungen kommen, dann ist etwas, wo wir vielleicht diese Fähigkeiten noch nicht haben - und sie erst wieder erwerben müssen."

    Die Zeiten haben sich geändert. Das spielt sicherlich eine Rolle, und es liegt auch daran, so Henning Saß, dass …

    "manche Kompensationsformen, die es früher gab, heute nicht mehr so zur Verfügung stehen. Damit meine ich, dass der Halt gebende Verbund einer Familie, einer intakten Familie, vor allen Dingen einer Großfamilie, heute in vielen Fällen nicht mehr so zur Verfügung steht, oder auch dass das, was früher dem Menschen an Halt und Rahmen durch Religion und Kirche zur Verfügung stand, heute für viele nicht mehr so verbindlich ist. Auch andere Rahmen, Strukturen, Autoritäten, Schule, Lehrer, haben an Gewicht verloren, werden infrage gestellt, was Vor- und Nachteile hat, aber was dazu führen kann, dass Menschen, die nicht mehr selbst über eine gefestigte und belastbare seelische Struktur verfügen, dass die dann ihren Halt verlieren und auch eher in eine psychische Krise geraten können."

    Die gesellschaftlichen Veränderungen führen auch dazu, dass Aufgaben, die früher von der Familie übernommen wurden, heute dem Staat zufallen. Gleichzeitig kann der Staat nur begrenzt einspringen, wo private Hilfen versagen.

    "Das heißt, sie können Veränderungen und Hilfen geben auf individueller Ebene für Personen, die es sehr notwendig haben, sehr bedürftig sind, aber es sind auch notwendig Veränderungen innerhalb der gesamten Gesellschaft, und hier müssen wir auch diskutieren. Das sehen sie jetzt an Hartz-IV-Diskussionen: Was können wir uns leisten? Welche Ansprüche gibt es? Wo müssen wir zurückschrauben? Noch dramatischer ist es sicherlich in Griechenland, wo die Veränderungen ja noch viel mehr die Gesellschaft betreffen."

    Das Beispiel Griechenland zeigt, wie schwer es ist, einmal erworbene Ansprüche zu reduzieren. Das ist psychisch kaum zu verkraften. Anders als in den 1950er-Jahren, wo einem vielleicht bescheidenen Lebensstil die Hoffnung auf ein besseres Leben gegenüberstand, drohen jetzt Einbußen.

    "Wir sind natürlich in der Entwicklung in den Industriestaaten so, dass wir nicht mehr Bruttosozialprodukt-Zuwächse von zehn Prozent oder mehr erwirtschaften können. Wir haben kleinere Veränderungen. Was wir brauchen, sind sicherlich Innovationen, die mit sehr viel mehr Aufwand zu erwirtschaften sind oder auch zu entwickeln sind. Und das gibt nach oben natürlich ein Limit. Deswegen ist natürlich die Perspektive schwieriger. Aber nichtsdestotrotz würde ich sagen, auch ein Faktor in der Therapie ist zu schauen: Was gibt es Positives, was kann man überhaupt an Möglichkeiten einbringen? Und ich finde, da haben wir als Gesellschaft doch positive Grundlagen."

    Wie lässt sich diese subjektive Sicht verändern? Für die Betroffenen erscheint die Situation zunächst aussichtslos. Professor Henning Saß:

    "Das Ziel ist, mit dem Patienten gemeinsam zu verstehen, wie die Krise entstanden ist, wie es aussieht und dann natürlich einen Weg heraus zu suchen, und das bedeutet, über die Analyse der gegenwärtigen Situation hinaus, dass man die Ressourcen zu identifizieren versucht, über die der Patient verfügt, die Stärken, die Fähigkeiten, wo seine Interessen liegen, wo man etwas anderes machen könnte, als jetzt nur zu verharren in der Trauer und in der Verbitterung und in der Sorge; sondern da, wo er wieder etwas Neues aufbauen kann. Ich weiß, dass das etwas euphemistisch klingen mag, dass es leicht gesagt ist für einen Menschen, der tatsächlich in realer, sozialer Notlage sich befindet, wo das Nötigste fehlt, wo das Geld fehlt und wo die Möglichkeiten, die Kinder zu unterstützen und so weiter, eingeschränkt sind. Aber dennoch: Zum einen haben wir in Deutschland - auch im Vergleich zu anderen Ländern - ein sehr gut funktionierendes soziales Netz, zum anderen gibt es Möglichkeiten, auch wenn die materiellen Mittel beschränkt sind, seinem Leben einen Sinn zu geben, Beziehungen zu anderen zu unterhalten, in Selbsthilfegruppen Hilfe zu suchen, in Vereinen, in karitativen Strukturen Verstützung zu finden."

    Krisen scheinen oft in dem Augenblick, wo sie bestehen, unüberwindlich. Wie Menschen in Notlagen geholfen werden kann, was die Gesellschaft noch tun muss und wo Grenzen der Hilfen liegen, darüber wird zurzeit heftig diskutiert. Die negativen Aspekte der Krise stehen dabei eindeutig im Vordergrund.

    "Wir haben viel über Krisen, Belastungen, Störungen, die dadurch entstehen gesprochen. Man sollte nicht vergessen, dass Krisen auch eine Chance bedeuten, eine Herausforderung, darüber nachzudenken: Wo stehe ich, was kann ich, was will ich. Und in der Krise kann die Neuorientierung dazu führen, dass bisher verschüttete Ressourcen besser genutzt werden und ein neuer Weg entsteht. Also die Krise hat auch etwas Positives."