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Arbeitsmarkt
Unternehmer entdecken Autisten

Nur rund fünf Prozent aller Autisten finden eine Stelle im so genannten Ersten Arbeitsmarkt. Doch je mehr sich Unternehmer mit dem Thema beschäftigen, desto begeisterter sind manche von ihnen - denn gerade im Büro können viele Autisten ihre Stärken einbringen.

Von Beate Hinkel | 27.11.2013
    Es ist 9 Uhr morgens. Yannick Binsau betritt sein Büro in einer Druck-Agentur und schaltet den Computer an.
    “Wenn ich ankomme, da überprüfe ich als Erstes die Mails, ob nachdem ich gegangen bin, noch neue Aufträge eingegangen sind. Wenn Aufträge hier per E-Mail eingehen, dann gehe ich hier in unser System rein und lege dort die Aufträge an mit den Daten, die der Kunde schickt.“
    Daten erfassen, Rechnungen schreiben, Post eintüten: Es sind immer die gleichen Aufgaben, die Yannick Binsau zu erledigen hat. Und das ist gut so. Denn Asperger-Autisten lieben Routine, ja brauchen Rituale. Und: Sie gehen möglichst immer die gleichen Wege und stürzen in eine Krise, wenn ihre Ordnung zerstört wird.
    Im Büro sitzt Yannick Binsau am besten alleine. Denn Unruhe, wie z.B. klingelnde Telefone und rein und raus laufende Mitarbeiter könnten ihn überfordern. Ist das von längerer Dauer, ziehen sich viele Autisten zurück, verschließen sich und werden möglicherweise depressiv. Doch wenn die Bedingungen stimmen, ist er genau der Richtige für Aufgaben, bei denen möglichst keine Fehler passieren sollten, sagt sein Chef Henry Badenhop:
    “Da ist Yannick prädestiniert für, auch die Rechnungen, da kann ich mich drauf verlassen, die sind in Ordnung. Wenn irgendwas Auffälliges da ist, dann kommt er zu mir und fragt. Also er ist sehr aufmerksam, was Dinge angeht, die außer der Reihe sind. Wenn das nicht das Schema ist, was wir besprochen haben, und da weicht irgendetwas ab, das fällt ihm auf.“
    Nach seinem Realschulabschluss hat der 21 Jahre alte Auszubildende fünf Praktika gemacht:
    “Alle im Büro. Ich bin mehr so der fürs Büro.“
    Auch wenn es Autisten gibt, die Anwalt, Arzt oder Architekt geworden sind, die meisten bekommen nur schwer eine Stelle auf dem Ersten Arbeitsmarkt. Spätestens im Bewerbungsgespräch merken Arbeitgeber, dass etwas anders ist. Denn dass sich Yannick Binsau inzwischen recht gut unterhalten kann, das hat er lange trainiert. Vielen Autisten fällt es schwer, die Mimik und Gestik anderer wahrzunehmen, ihre Eindrücke zu filtern und zu deuten. Die Folge: Rückzug, kein „Guten Tag“ beim Türen öffnen, kein Small Talk.
    Hilfreich ist ein speziell ausgebildeter Coach, wie ihn auch Yannick Binsau hat, der das ungewöhnliche Verhalten im Bewerbungsgespräch erklären kann. Denn hätte Henry Badenhop seinen Auszubildenden nicht schon früher gekannt:
    “Weil man sich mit dem Thema nicht beschäftigt hat vorher, wir hätten es wohl abgelehnt. Aber, da bin auch eines Besseren belehrt worden. Autisten einzusetzen: überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, es ist für den gesamten Betrieb, für das Klima, für das Image ne positive Sache.“
    Und möglicherweise zahlt das Arbeitsamt noch bis zu 80 Prozent des Ausbildungsgeldes. Und für eine Festanstellung gibt es über die Eingliederungshilfe auch noch einen Zuschuss.
    Immer noch finden nur fünf Prozent aller Autisten eine Stelle im so genannten Ersten Arbeitsmarkt. Doch nach und nach stellen Unternehmer fest, dass sie sich schon früher mit Autismus beschäftigt hätten - denn gerade im Büro können manche Betroffenen ihre Stärken einbringen.
    Was muss sich also ändern, damit mehr Autisten ihre Brötchen auf dem Ersten Arbeitsmarkt verdienen können? Henry Badenhop:
    “Mehr Aufklärung, ganz klar, mehr Aufklärung. Das sind alleine diese Punkte, dass Autisten sehr gezielt, sehr effektiv eingesetzt werden können. Und ich behaupte mal, richtig eingesetzt, das Gleiche oder mehr bringen können, als ein normaler Auszubildender oder normaler Mitarbeiter. Gezielt eingesetzt, auf dem richtigen Platz, mit der richtigen Arbeit: nur positiv!“
    Nach seinen Erfahrungen würde der Unternehmer auch andere behinderte Menschen einstellen. Ob Yannick Binsau im kommenden Herbst bleiben kann, ist noch nicht entschieden:
    “Wenn wir die Möglichkeit haben, wenn die Arbeit da ist, gehe ich davon aus, dass er auch noch länger bleiben kann.“
    Für heute ist die Arbeit erst einmal beendet. Jetzt geht Yannick Binsau joggen, Fahrrad fahren oder aufs Sofa, um weiter in seinem Comic zu lesen. Denn er hat gelernt, dass es wichtig ist, zu entspannen.
    “So, der fährt jetzt einfach so runter.“