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Arbeitsraum Atelier

Was in dem Raum, in dem Kunst entsteht, wirklich passiert, das kann man nur erahnen. Die Wahrheit ist: In den meisten Ateliers wird gearbeitet und zwar nicht zu knapp. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt in "Mythos Atelier" den Arbeitsraum von Künstlern verschiedener Genres und Zeiten.

Von Christian Gampert | 29.10.2012
    Im Atelier wird gesungen und gesprungen. Jonathan Meese, wir sehen es im Video, tänzelt in seinem Atelier von einer Leinwand zur anderen, malt mit den Fingern und singt ein liebliches Liedlein: Er sei der Märchenprinz und dergleichen. Das ist wirklich herzig und wahrscheinlich hochparodistisch gemeint, denn auch die Mal-Sessions der Abstrakten Expressionisten waren rituelle Handlungen.

    So wird man in Stuttgart begrüßt: mit Tanz und Gesang, und doch ist das eine ganz seriöse Themenausstellung. Man setzt ein mit dem 19.Jahrhundert, denn zuvor gab es zwar durchaus Atelierbilder, aber meist in der Funktion des Selbstporträts des Künstlers. Dann aber tritt der Raum in den Vordergrund, als repräsentatives Ambiente wie bei Max Liebermann – oder als existentieller Ort, der die eigene Kunst erklären soll.

    Was im Atelier aber wirklich geschieht, das weiß man nicht. Wilder Sex wahrscheinlich, so denkt der Laie, befeuert von etwa 100.000 Picasso-Bildern zum Thema "Maler und Modell", welchselbige zwar meist monströs-kubistisch dargestellt sind, verrenkt und mit verdrehten Köpfen, die einander aber trotzdem, in ihrer Nacktheit und mit tropfendem Pinsel, gierig beäugen. Gestützt wird die These vom Atelier als Ort der Ausschweifung auch durch diverse Heckel- und Kirchner-Bilder, auf denen leichtbekleidete Models sich räkeln und es überhaupt sehr locker zuzugehen scheint, und das in den 1910er-Jahren.

    "Antibürgerliche Gegenwelten" nennt das die Stuttgarter Schau. Gegenwelt? Der amerikanische Künstler Bruce Nauman hat vor einigen Jahren Nachtsicht-Kameras in seinem verdunkelten Atelier installiert und das Geschehen einer Nacht abgefilmt – man sieht dort, die mit mehreren Projektoren raumfüllende Installation ist in Stuttgart aufgebaut, vor allem umherhuschende Mäuse und bisweilen eine Katze.

    Die bittere Wahrheit ist: Im Atelier wird gearbeitet, und zwar nicht zu knapp. Alberto Giacometti hat fast sein ganzes Künstlerleben in seinem Pariser Atelier verbracht, meistens war er allein; und Giacometti, der sich an den immer gleichen Themen, an der Unmöglichkeit der Menschendarstellung abgearbeitet hat, ist auch der eigentliche Anlaß dieser Ausstellung, sagt die Kuratorin Ina Conzen.-

    "In die konkretere Planungsphase kam das Ganze ab 2008, als ich in Paris diese wunderbare Giacometti-Ausstellung gesehen hab, 'das Atelier von Alberto Giacometti'. Und wo einem schlagartig klar wurde, wie wichtig das ist, zu schauen, wie Künstler und Werkraum interagieren… und wie wichtig das auch ist, die Kunstgeschichte von einem so persönlichen, einem so subjektiven Standpunkt aus zu erklären."

    Die abgetragenen Wände von Giacomettis Atelier sind nun in Stuttgart aufgehängt, vollgekritzelt mit Vorstudien für Portraits und Plastiken. Dieser Raum ist in seiner sakralen Anmutung der schönste der ganzen Ausstellung: Er nimmt die graue, irgendwie auch staubige Arbeitsatmosphäre auf – und stellt Giacomettis hohe, schmale Menschenfiguren dazu wie in einer Kirche.

    Kunsthistorisch ist das alles präzis gearbeitet: Man beginnt mit Spitzwegs "Armem Poeten", also mit der Künstlerklause des armen Schluckers, und geht flugs weiter zu Malerfürsten wie Hans von Makart oder Franz von Stuck, deren Wiener und Münchner Ateliers wahre Prunkräume waren. Die Impressionisten verlegten die Arbeit dann gleich ganz nach draußen, in die Natur, doch die Protagonisten der klassischen Moderne machten das Atelier wieder zu ihrem Reflexions- und Zufluchtsort.

    Die Ausstellung arbeitet das alles mit besten Beispielen ab, "Blauer Reiter" und "Brücke", Duchamps Schachteln und leider auch Margritte, viel Picasso – und dann geht es gleich in die Gegenwart. Anselm Kiefer zeigt uns die Planken des Ateliers als Erinnerungsspeicher, der großartige Gerhard Richter wird mit einem farbstrotzenden Atelier-Triptychon geehrt.

    Am eindrücklichsten ist die originalgetreue Rekonstruktion des Ateliers von Piet Mondrian – eine konstruktivistische Mönchsklause, das einzig Humane darin ist ein einsames Bulleröfchen. Ein schmuddeliges Zimmer von Martin Spoerri und Chaosinstallationen von Dieter Roth versprühen den Geist der 60er- und 70er-Jahre. Den Geist dieser großartigen Ausstellung aber resümiert am besten der späte Georges Bracque: Das Atelier, so schreibt er, ermögliche ihm ein "unermessliches Eintauchen in mich selbst".