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Arbeitsrechtler zweifelt an Verhältnismäßigkeit des Vorfeld-Streiks

Kleine Gewerkschaften könnten sich für einen Streik zusammentun. Sie könnten auch andere Mitarbeiter zum Mitstreiken aufrufen, wenn sie Tariffragen auch für diese mitregeln wollten, sagt der Tübinger Arbeitsrechtler Gregor Thüsing. Beim Streik der Vorfeld-Mitarbeiter in Frankfurt sei das aber nicht der Fall.

Gregor Thüsing im Gespräch mit Peter Kapern |
    Peter Kapern: Rückschlag für die kleine Gewerkschaft der Flugsicherung. Weil der Streik der 200 Vorfeldarbeiter den Arbeitgeber bislang nicht zum Einlenken bewogen hat, wollte sie heute ihre Fluglotsen zum Streik aufrufen. Gestern Abend aber hat das Frankfurter Arbeitsgericht diesen Solidaritätsstreik untersagt. Im Moment stehen beide Kontrahenten wieder vor Gericht: die GDF auf der einen Seite und der Flughafenbetreiber Fraport auf der anderen. Diesmal geht es um die Frage, ob der Streik der Vorfeldmitarbeiter ebenfalls unverhältnismäßig sein könnte.

    Bei uns am Telefon ist nun Gregor Thüsing, Professor für Arbeitsrecht an der Universität in Bonn. Guten Tag, Herr Thüsing.

    Gregor Thüsing: Ich grüße Sie.

    Kapern: Herr Thüsing, ein rundes Dutzend Fluglotsen gegen einen ganzen Flughafen, das ist unverhältnismäßig. Das hat das Arbeitsgericht in Frankfurt gestern entschieden. Wie sieht es denn Ihrer Meinung nach aus mit dem Kampf von 200 Vorfeldmitarbeitern gegen einen ganzen Flughafen? Könnte das auch unverhältnismäßig sein?

    Thüsing: Das Problem ist: Wir haben im Arbeitskampf keine geschriebenen Regeln. Wir haben ein Tarifvertragsrecht, was genau sagt, was gilt und was nicht gilt. Aber wir haben kein Gesetz zu Streik und Aussperrungen. Das ist ein Gebiet, wo der Richter, einzig geleitet durch die Verfassung, Regeln selber schaffen muss. Wir haben einige Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, die da Hilfe geben, aber das, was hier momentan passiert, gab es vorher so noch nicht. Insofern stehen wir ein bisschen vor dem Problem, dass wir aus sehr allgemeinen Formeln heraus etwas beurteilen müssen, was wir in der Vergangenheit nicht kannten. Da fallen dann die Urteile auseinander. Die Frage, was ist verhältnismäßig, ist etwas, was verschiedene Leute vielleicht verschieden beantworten werden. Ich glaube schon, dass es hier sehr starke Anzeichen gibt, die an der Verhältnismäßigkeit zweifeln lassen. Die Frage ist, ob es den Beteiligten gelingen wird - Fraport, Lufthansa -, die hinreichend deutlich zu manifestieren. Das Argument, es ist etwas anderes, wenn ich für eine ganze Belegschaft streike und die Arbeitsbedingungen verbessern will, ist valide, wenn ich dem gegenüber für eine Belegschaft streike, die weniger als ein Prozent der Konzernmitarbeiter ausmacht. Sie müssen sich vorstellen: Die Konsequenz, wenn das verhältnismäßig wäre, dann müsste man vielleicht mit 100 Streiks rechnen, wenn sich alle Arbeitnehmergruppen so aufstellen würden. Das wäre sicherlich ein System, was weder den Mitarbeitern, noch dem Unternehmen, noch der Öffentlichkeit hinreichend dienen würde.

    Kapern: Aber das würde doch darauf hinauslaufen, dass kleine Gewerkschaften ein Streikrecht zweiter Klasse haben?

    Thüsing: Nein. Kleine Gewerkschaften hätten ja immer die Möglichkeit, sich mit anderen Gewerkschaften zusammenzutun und gemeinsam zu streiken. Kleine Gewerkschaften könnten Arbeitnehmer auch insgesamt des Konzerns aufrufen zum Streiken, wenn sie sagen, für die wollen wir hier mit regeln. Und wenn sie die Belegschaft überzeugt, dass diese kleine Gewerkschaft, die vielleicht nur wenige Mitglieder hat, der richtige Verhandlungspartner für den Arbeitgeber ist, dann können auch bei einem Streik, zu dem eine kleine Gewerkschaft aufruft, alle Mitarbeiter mitstreiken. Das Problem ist: Die Gewerkschaft will ja gar nicht für alle Mitarbeiter regelnd tätig werden, sondern eben nur für diese 190 oder 200 Mitarbeiter. Da muss man eben sagen, ein solcher Streik ist etwas anderes, als wenn die Belegschaft insgesamt streikt, und kann deshalb nach anderen Regeln beurteilt werden.

    Kapern: Man könnte natürlich auch sagen, dass kleine Gewerkschaften nur deshalb existieren, weil die Interessen ihrer Mitglieder von den großen Gewerkschaften einfach nicht vertreten werden, weil die sich um kleinere Randgruppen einfach nicht ausreichend kümmern. Das heißt, dann wären die kleinen Gewerkschaften ja doch in ihrer Wirkung sehr stark eingeschränkt.

    Thüsing: Selbstverständlich. Dass kleine Gewerkschaften gegründet werden, hat auch damit vielleicht zu tun, dass andere Gewerkschaften immer größer werden. Früher konnte jemand, der bei der Post war, sagen, ich bin ein Postgewerkschaftler und das war auch schon mein Vater, vielleicht auch schon mein Großvater. Heute muss er sagen, ich bin Mitglied der Vereinigten Gewerkschaft Dienstleistungen, das hat einen sehr viel geringeren Identifikationswert. Eine Gewerkschaft, die den Interessenausgleich in einer ganzen Belegschaft suchen muss, wird das vielleicht auf Kosten bestimmter Gruppen tun, aber solange da keine systematische Benachteiligung bestimmter Arbeitnehmergruppen liegt, ist das dann auch Aufgabe und legitimes Recht der Gewerkschaft zu sagen, ich muss eine Belegschaft insgesamt legitimieren und repräsentieren und deswegen muss ich eben auch versuchen, alle gleichmäßig zu bedienen. Dass dann Arbeitnehmer sagen, wenn ich für mich alleine streiken würde, wäre ich aufgrund der spezifischen Tätigkeit, die ich ausführe, die sehr schadensgeneigt ist, wenn ich sie nicht ausführe, in einer besseren Verhandlungsposition, das ist dann das Maß an Solidarität, was die Rechtsordnung erwarten kann, dass dieses Streikrecht eben nur gemeinsam ausgeübt wird.

    Kapern: Nun hat Bundesarbeitsministerin von der Leyen heute Früh in einem Fernsehinterview gesagt, es sei an der Zeit, darüber nachzudenken, ob man nicht Regeln für Minigewerkschaften und ihre Arbeitskämpfe verfassen müsste. Wie könnten solche Regeln aussehen?

    Thüsing: Na ja, man könnte zumindest sagen, ob es nicht im Bereich der Daseinsvorsorge tatsächlich so ist. Denn es ist natürlich etwas anderes, ob ich ein Unternehmen bestreike, auf dessen Leistung ich nicht tagtäglich angewiesen bin und nicht essenziell angewiesen bin. Oder ein Unternehmen, was eben in deren Streiklahmlegung solche Auswirkungen auf die Öffentlichkeit hat. Wenn man da jetzt sagt, zum Beispiel, dass man ein Quorum einführt, wie es ja die FDP jetzt ins Spiel gebracht hat, zu sagen, es muss schon eine bestimmte Mindestprozentzahl von Mitarbeitern hier sich zusammengetan haben, dann ist das etwas, was rechtlich regelbar wäre, wo man sagen kann, das kann ein erster Ansatz sein.

    Kapern: Also so etwas wie eine Fünf-Prozent-Klausel für Streiks?

    Thüsing: Ja. Man kann es so nennen. Ob das fünf Prozent sind, ob das zehn Prozent sind, ob es andere Regelungen sind - man kann im Baukasten denken. Wenn Sie zum Beispiel sehen, was hat der französische Gesetzgeber gemacht: Dort ist momentan im Senat anhängig ein Gesetz, das von der Nationalversammlung im Januar beschlossen wurde, das sagt, wenn ich im Bereich der Luftfahrtindustrie streike, muss ich das hinreichend vorher erklären. Ich muss genau sagen, wie viele Mitarbeiter hier streiken werden, damit sich die Öffentlichkeit darauf einrichten kann. Solche Vorankündigungsfristen wären etwas, womit man schon die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit minimieren würde. Man könnte die Frage stellen, ob es nicht Schlichtungsmöglichkeiten gibt, dass erst mal ein unverbindlicher Schlichtungsspruch gefällt wird, und dann können die Parteien sehen, ob sie den annehmen können oder nicht. Dass man halt Cooling-off Periods schafft, wo man sagt, in bestimmten Fristen dürft ihr nicht streiken, sondern ihr müsst erst einmal verhandeln. Da ist ganz vieles denkbar. Wenn die Politik den Mut entwickelt, hier zu sagen, das schauen wir uns alles mal an, wir prüfen alles, behalten das Gute, dann ist das etwas, wo die Öffentlichkeit, aber ich glaube letztlich auch die Arbeitnehmer und Arbeitgeber von profitieren werden.

    Kapern: Aber wenn man jetzt auf diese Art oder so ähnlich die, sagen wir mal, wirtschaftliche, gesellschaftspolitische Schlagkraft kleiner Gewerkschaften einschränkt, was ist dann noch die Vereinigungsfreiheit wert, die immerhin im Grundgesetz steht?

    Thüsing: Tarifverträge können auch kleine Gewerkschaften schließen. Sie werden das auch tun können, wenn sie alleine nicht streiken können. Es zwingt dann zur Kooperation mit anderen Gewerkschaften, das ist aber etwas, was ja die Gewerkschaftsarbeit nicht unmöglich macht. Die Existenz einer kleinen Gewerkschaft ist immer ein Stachel im Fleisch der großen Gewerkschaft. Sie wird insofern gut tun zu kooperieren, will sie nicht den Hautgeruch erwerben, gegen Konkurrenten arbeiten zu wollen. Insofern: es werden dann andere Formen der Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit sein, aber nicht notwendig minder effektivere, vor allem aber friedlichere und vielleicht auch effizientere Wege.

    Kapern: Gregor Thüsing war das, Professor für Arbeitsrecht an der Universität in Bonn. Herr Thüsing, ich danke Ihnen, dass Sie sich heute Mittag die Zeit für uns genommen haben.

    Thüsing: Ich danke Ihnen.

    Kapern: Auf Wiederhören!

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