Dienstag, 19. März 2024

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Arcadia Quartet spielt Weinberg
Wehmut, Wut und Wärme

Das Arcadia Quartet vereint Präzision und Leidenschaft. Auch den Farbreichtum in der Musik von Mieczysław Weinberg erkundet das Ensemble hochsensibel, zu hören im gelungenen ersten Streich seiner Gesamtaufnahme aller Weinberg-Quartette.

Am Mikrofon: Marcus Stäbler | 16.05.2021
    Drei Männer und eine Frau in Konzertkleidung blicken lächelnd in die Kamera.
    Die Mitglieder des Arcadia Quartet: v.l. Răsvan Dumitru (Vl), Traian Boală (Vla), Ana (Vl) und Zsolt Török (Vc) (Afina Jambor)
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, I. - Allegro
    Mieczysław Weinberg beginnt sein zweites Streichquartett mit einer sonnigen Melodie der ersten Geige, scheinbar unbeschwert vom dramatischen Bruch dieser Zeit. Das Stück entstand 1939 bis 1940, als Weinberg gerade mal zwanzig Jahre alt war und vor dem Überfall der Deutschen aus Polen nach Russland geflohen ist. Dass seine Mutter und seine Schwester bereits von den Nazis ermordet worden waren, wusste er damals noch nicht. Sie galten beide als vermisst.

    Friedensträume und Frustentladung

    Ihnen ist das zweite Quartett gewidmet, in dem Weinberg mitunter einen geradezu zärtlichen Ton anschlägt. In der Aufnahme des Arcadia Quartet wirkt das stellenweise, als würde er sich in einen Zustand kindlichen Friedens zurück träumen.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, I. - Allegro
    Aber dieser Friede hat keine Zukunft. Scharfe Akzente zerschneiden die Idylle, gehetzt von der rastlosen Bewegung der Unterstimmen, in manchen Passagen gerät die Musik förmlich außer sich.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, I. - Allegro
    Ob da die panische Angst des Zwanzigjährigen vor dem Verlust der Familie zu spüren ist? Das zweite Quartett von Weinberg berührt jedenfalls existenzielle Gefühle - und das Arcadia Quartet spielt mit einer Dringlichkeit, die die ganze Aufnahme prägt.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, IV. - Presto
    Wie schon in seinen Bartók- und Janáček -Aufnahmen verbindet das Arcadia Quartet Präzision und Leidenschaft. Damit erkundet das rumänische Ensemble, 2006 gegründet, den großen Farbreichtum in der Musik von Weinberg.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, II. - Andante
    Mieczysław Weinberg, 1919 als polnischer Jude in Warschau geboren und 1996 in Moskau gestorben, war über Jahrzehnte weitgehend vergessen, zumindest in Westeuropa. Erst seit der späten szenischen Uraufführung seiner Oper "Die Passagierin" im Jahr 2010 bei den Bregenzer Festspielen erlebt sein Schaffen eine Renaissance. Sie hat im hundertsten Geburtsjahr des Komponisten, 2019, noch einmal neuen Antrieb bekommen. Auch auf dem Tonträgermarkt.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, IV. - Presto
    Das neue Album des Arcadia Quartet ist der Start einer Gesamtaufnahme aller siebzehn Streichquartette von Weinberg. Sie offenbaren eine Vielfalt an musikalischen Charakteren, die sich manchmal nur schwer auf einen Nenner bringen lässt. Aber genau dieses Gleichgewicht verschiedener Identitäten mache die Einzigartigkeit des Komponisten aus, schreibt der renommierte Weinberg-Forscher David Fanning im Beiheft der CD.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, IV. - Presto
    Weinbergs Wechselspiel der Identitäten tritt schon im zweiten Quartett deutlich zu Tage. Nach dem Kontrast von Idylle und Panik im ersten Satz und einer Elegie im zweiten, inszeniert der dritte eine ganz andere Stimmung. Mit gedämpften Streicherklängen und einem von Pausen durchsetzten Rhythmus wirkt dieses "Allegretto" wie ein stockender Geistertanz.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 2, op.3/145, III. Allegretto - Coda
    Das gespenstische Allegretto aus dem zweiten Quartett ist eins von vielen Beispielen für die plastischen Charaktere in Weinbergs Musik. Das Scherzo aus dem fünften Quartett beschwört ein ganz anderes Bild. Hier entfacht die Musik eine motorische Kraft, vom Arcadia Quartet mitreißend gespielt.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 5, op.27, III. Scherzo. Allegro molto
    Die brutale Wucht dieses Scherzos erinnert teilweise an ähnliche Momente im Schaffen von Dmitri Schostakowitsch, dem 13 Jahre älteren Kollegen, Freund und Mentor von Mieczysław Weinberg. Auch an anderen Stellen klingt die Geistesverwandtschaft der beiden Komponisten an, etwa in ihren Verweisen auf die jüdische Musiktradition.

    Auf Augenhöhe mit Schostakowitsch

    Aber diese Nähe ist nicht einseitig, sondern das Ergebnis eines gleichberechtigten Dialogs zwischen den beiden Komponisten. Manches, was uns an Schostakowitsch erinnert, war vielleicht trotzdem zuerst bei Weinberg zu hören.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 5, op.27, II. Humoreske. Andantino
    Auch die Ironie gehört zum Repertoire von Weinberg, wenn sich ein vermeintlicher Frohsinn als hohle Geste entlarvt. So wie in der Humoreske aus dem fünften Quartett.

    Tief empfundene Tongestaltung

    Ganz echt und tief empfunden wirkt dagegen das andere Ende der Skala, wenn Weinbergs Musik ihre Einsamkeit und Melancholie bekennt. In den Streichquartetten artikuliert sich dieses Gefühl oft im ausgedehnten Gesang der ersten Geige. Ana Török vom Arcadia Quartet berührt in der Aufnahme mit ihrem sensiblen Spiel, das Wehmut und Wärme vereint.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 5, op.27, I. Melodie. Andante sostenuto
    Die neue Produktion geht einen Schritt weiter als die erste Gesamtaufnahme der Weinberg-Quartette vom Quatuor Danel, aus den Jahren 2006 bis 2009. Das Arcadia Quartet offenbart die große Ausdruckskraft von Weinbergs Musik noch etwas eindringlicher. Eine Ausdruckskraft, in der die schmerzvolle Biografie des Komponisten wohl immer wieder ihre Spuren hinterlassen hat.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 8, op.66, I. Adagio - Andante - Adagio
    Nachdem seine Familie von den Nazis ermordet worden war, und er im russischen Exil lebte, fand Weinberg auch dort lange keinen Frieden. Während der stalinistischen "Säuberungen" musste er einige Zeit im berüchtigten Lubjanka-Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes KGB überstehen. Erst nach Stalins Tod, 1953, erlangte er seine Freiheit zurück und wurde als aufstrebender Komponist zu einer wichtigen Figur des Musiklebens in Moskau.

    Notierte Therapie

    Aber die Verlusterfahrungen, die Wunden und Ängste waren zu tief eingebrannt, als dass sie sich vergessen oder abschütteln ließen. Das ist auch im achten Quartett aus dem Jahr 1959 zu spüren. Die raschen Passagen im Mittelteil klingen wie der verzweifelte Versuch einer Flucht aus dem Zustand der Beklemmung.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 8, op.66, II. Allegretto - Allegro - Allegretto
    Das Strampeln nach Heiterkeit hilft nicht weiter, trotz aller hektischen Energie. Weinbergs Musik hat viele Gesichter und geht durch ganz unterschiedliche Aggregatzustände. Aber sie kehrt immer wieder zum Ton der Wehmut zurück, sie erzählt oft vom allein und verlassen sein - und sie findet im Arcadia Quartet ein Ensemble, das diese Emotionen mitfühlt.
    Musik: Mieczysław Weinberg - Streichquartett Nr. 8, op.66, III. Doppio più lento - Andante
    Mieczysław Weinberg: Streichquartette Vol.1
    Mieczysław Weinberg
    Streichquartett Nr. 2 G-Dur op.3/op.145
    Streichquartett Nr. 5 B-Dur op. 27
    Streichquartett Nr. 8 C-Dur op. 66

    Arcadia Quartet:
    Ana Török, Violine
    Răsvan Dumitru, Violine
    Traian Boală, Viola
    Zsolt Török, Violoncello

    Label: Chandos