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Architektur!

Einige der Gebäude wurden berühmt durch Filme, wie die Casa Malaparte auf Capri durch Jean-Luc Godards Streifen "Le Mépris". Das Haus, nach einem kubistischen Entwurf des Italieners Adalberto Libera gebaut, befindet sich in schwindelerrregender Lage auf einer steilen Klippe, die sich schmalzüngig ins Meer hinaus schiebt. Die nach allen Seiten hin offene Dachterrasse, über eine breite Freitreppe erreichbar, wirkt wie eine offene Bühne, 1963 von Brigitte Bardot und Fritz Lang bespielt. Das Empire State Building hingegen brauchte "King Kong" nicht für seinen Ruhm. Mit den sich nach oben hin verjüngenden Stufen und der sparsamen Dekoration ist es eines der beeindruckendsten Beispiele für den Art Déco-Stil amerikanischer Wolkenkratzer. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung, 1930, war es das höchste Gebäude der Welt. Dasselbe galt in den sechziger Jahren für das John Hancock Center in Chicago, vom Architektenbüro Skidmore, Owings und Merrill entworfen. Der monolithische schwarze Turm mit den charakteristischen kreuzförmigen Verstrebungen ist eine ungewöhnliche Mischform zwischen Büros und Wohnraum: hier kann man sich vom 44. bis zum 195. Stockwerk einmieten. Gewöhnliche Sterbliche können im obersten Stockwerk des 330 Meter hohen Gebäudes an ihrem Coctail nippen und auf andere Wolkenkratzer hinabsehen.

Beatrice von Bormann |
    Nur ein knappes Jahrzehnt später entwarfen dieselben Architekten den Sears Tower, heute das Wahrzeichen der Stadt. Dazu heißt es: "Der Sears Tower überragt die City Chicagos als ein unverkennbares Symbol des Stolzes der Stadt auf ihr Erbe als Geburtsstätte des Wolkenkratzers. 1974 fertiggestellt, war der Sears Tower mit einer Höhe von 447 Metern mehr als zwanzig Jahre lang das höchste Gebäude der Welt, bis er 1996 von Cesar Pellis Petronas Towers in Kuala Lumpur um nur zehn Meter übertroffen wurde."

    In der von Sabine Thiel-Siling zusammengestellten Auswahl der Architektur des 20. Jahrhunderts geht es jedoch nicht nur um Superlative. Es sind Gebäude mit unterschiedlichster Funktion und aus verschiedenen Teilen der Welt vertreten. Allerdings bilden Deutschland insbesondere und Europa im allgemeinen einen deutlichen Schwerpunkt: weit über die Hälfte der 87 beschriebenen Gebäude befindet sich auf unserem Kontinent. So wird bereits in der Auswahl das Zielpublikum sichtbar. Die vorgestellten Bauwerke seien, so Thiel-Siling, jeweils spektakulär für ihre Zeit und ihr Umfeld. Daß ihre Entstehung gerade aus diesem Grund oft Anlaß gab zu Kontroversen, wird am Beispiel des Centre Pompidou in Paris deutlich. Renzo Piano und Richard Rogers gewannen 1971 den vom Staatspräsidenten Georges Pompidou ausgelobten Wettbewerb. Mit Hilfe von sieben Gerichtsverfahren wurde versucht, den Bau zu stoppen oder wenigstens zu verzögern, ohne Erfolg. Der radikal moderne Bau mit seinen markanten farbigen Rohren provozierte besonders in einem der ältesten Viertel der Stadt.

    Paris ist, so wird in diesem Band deutlich, eines der Schwerpunkte zeitgenössischer Architektur, besonders wenn es um avantgardistische Monumentalbauten geht. Von Pompidous Museum bis zu Mitterands Bauprojekten der Grande Arche de la Défense oder der Bibliothèque Nationale: Hier hinterläßt jeder Präsident seinen eigenen Stil in Stein. Architektur, so wird in diesem Buch deutlich, ist vielleicht die internationalste der Künste. Ieoh Ming Pei zum Beispiel wurde in China geboren, studierte aber in Harvard bei dem früheren Bauhausleiter Walter Gropius. 1993 erregte er Aufsehen mit seiner Glaspyramide im Louvrehof in Paris, wo er auf elegante Weise neu und alt verband. Eines der spektakulärsten Bauten in Hongkong wurde dagegen in den achtziger Jahren vom Engländer Norman Foster entworfen. Das Hochhaus der Hongkong und Shanghai Bank wird im Buch so beschrieben: "Die architektonische Sensation ist zweifelsohne, daß man das Gebäude nicht betritt, sondern 'erfährt'. Mittels zweier Rolltreppen fährt der Bankkunde von unten durch einen Klarglasmembranbauch in die im ersten Stock befindliche Schalterhalle. Darüber öffnet sich der Luftraum eines zehnstöckigen Atriums. Tageslicht durchflutet, umgelenkt von einer an der Außenfassade angebrachten Lichtschaufel, den kathedralenartigen Innenraum."

    Man kann sich der von Sabine Thiel-Siling zusammengestellten Auswahl von Architektur des 20. Jahrhunderts auf verschiedene Art und Weise nähern. Man kann das Buch von 1884 bis 1998 durchblättern oder kreuz und quer lesen. Oder man sucht sich bestimmte Gebäudetypen heraus und vergleicht. Wolkenkratzer sind solch eine Gattung, oder auch Museumsbauten. Ein interessanter Aspekt dabei: wie verhält sich die Architektur zur Kunst. Häufig wird der jüngeren und jüngsten Museumsarchitektur vorgeworfen, die Architektur stelle die Kunst in den Schatten. Frank Lloyd Wright, Baumeister des New Yorker Guggenheim-Museums, war da anderer Ansicht: Er meinte, Bilder verderben die Architektur. Die jüngste Guggenheim-Filiale im baskischen Bilbao, von Frank Gehry entworfen, wirkt wie eine überdimensionale Skulptur. Architektur-Experte James Russell in seinem Beitrag über das 1997 eröffnete Museum: "Man gelangt entweder von der Straße, die Haupttreppe hinab, oder über eine Rampe von der Uferpromenade in das Museum. Die beiden Zugangswege treffen in einem hohen zentralen Atrium aufeinander, das sich mit dem ausgehöhlten Inneren eines Baumstamms vergleichen läßt. Von diesem zentralen Raum aus breiten sich die Fluchten der Ausstellungsräume wie Baumäste aus. Es ist, als habe Gehry jede einzelne Fläche und jeden einzelnen Raum irgendwie verbogen, verschoben oder verrückt. Jeder Eingriff schlägt auf das Äußere des Gebäudes durch, wo die Titanplatten das Licht aufnehmen, als wäre der Bau eine einzige gigantische Schüssel aus getriebenem Silber."

    Nicht jede Kunst verträgt eine solcherart bewegte, verschachtelte Architektur. Zugleich bedeutet es für viele zeitgenössische Künstler eine Herausforderung, sich auf den Dialog mit dem Bauwerk einzulassen. Mit Gehrys Guggenheim-Museum endet der von Sabine Thiel-Siling zusammengestellte Ausblick auf die Architektur des 20. Jahrhunderts. Es ist ein relativ schmaler Band, was die Auswahl der Bauwerke und den Raum für ihre Beschreibung begrenzt. Auf jeweils zwei Seiten wird ein erster Eindruck vermittelt: Eine Legende beschreibt das Gebäude und ordnet es architekturhistorisch ein, eine Kurzbiographie liefert die nötigste Information über den Architekten. Die Bildseite zeigt groß eine Hauptansicht und klein zumeist eine Innen- und Nebenansicht. Obwohl lexikalisch-chronologisch gestaltet, hat das Buch nicht den Anspruch, ein Standardwerk zu sein. Vieles wird in diesem Band nur angetippt und die Aktualität hat hier keinen Platz. Es ist ein schön aufgemachtes Buch, übersichtlich und mit guten Fotografien. Ein "Buch zum Schwelgen", wie die Herausgeberin verspricht, ist es allerdings nicht. Man vermißt wichtige Gebäude und Architekturschulen, und die Beschreibungen sind streckenweise etwas trocken. Auch so regt der Band dazu an, viele der Gebäude doch mal "live" zu erleben.