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Architektur der Bewegung

Wenn sich jemand in den Finger sägt oder in die Hand hackt, müssen Chirurgen oftmals ganze Finger oder eine Hand wieder annähen. In manchen Fällen sind einige Muskeln jedoch so zerstört, dass ein Annähen keinen Effekt mehr hätte. Dann suchen sich die Ärzte lieber gleich einen anderen Muskel im Körper, der die fehlende Funktion übernehmen könnte. Weitgehend unklar und damit dem Gefühl des Chirurgen überlassen ist es, welche Muskeln sie dafür nehmen. Amerikanische Forscher haben jetzt ein Konzept entwickelt, nach dem der richtige Muskel an die richtige Stelle kommt.

    Von Sabine Goldhahn

    Manchmal ist es eine Verletzung mit der Kreissäge, ein Unfall mit dem Mähdrescher. Oder mit einem Auto. Eine Hand oder Finger werden abgetrennt, Muskeln sind nicht mehr zu erkennen. Nerven haben keinen Anschluss mehr. Dann beginnt die Kleinarbeit für die Chirurgen. Mit Lupenbrille und Pinzette sitzen sie da und versuchen Muskeln und Nerven wieder zu reparieren. Oftmals zehn Stunden und länger. Michael Botte von der Scripps Clinic im kalifornischen La Jolla.

    Wenn ein Patient eine schwere Nerven- oder Muskelverletzung hat, können wir das in vielen Fällen reparieren. Aber manchmal gelingt es uns eben nicht und die Patienten verlieren eine wichtige Funktion. Beispielsweise können einige ihre Hand im Handgelenk nicht mehr nach oben strecken, sie fällt einfach schlaff nach unten. Aber wir haben jetzt die Möglichkeit, einen Muskel abzulösen und ihm dabei seine Nerven- und Blutversorgung zu belassen, so dass er an anderer Stelle eine neue Funktion ausüben kann.

    Bei dieser Operationsmethode nehmen die Chirurgen einen anderen Muskel des Armes, der nicht allzu weit von seinem künftigen Einsatzort entfernt liegt und pflanzen ihn mitsamt seiner Nerven und Blutgefässe um. Welcher Ersatzmuskel dafür in Frage kommt, war bislang der Entscheidung der Chirurgen überlassen. Das Problem dabei: Der Ersatzmuskel wird nicht nach seiner künftigen Funktion ausgewählt. Ob etwa die Muskelkraft ähnlich ist und ob die Wegstrecke stimmt, über die ein Muskel ziehen muss. Michael Botte:

    Wenn wir einen Muskel anschauen, wissen wir noch lange nichts über dessen Funktion. Wir denken, dass ein großer Muskel auch ein starker Muskel ist. Manchmal ist der große Muskel jedoch kein besonders starker, sondern eher ein besonders schneller Muskel. Oder er kann über große Strecken Kraft ausüben. Wenn wir die Architektur eines Muskels besser kennen, wissen wir auch, welche Funktion er übernehmen kann.

    Muskelarchitektur. – Ein Synonym für die äußere Beschaffenheit eines Muskels, Grundlage zum Verständnis der Muskelfunktion. Das neue Schlagwort für jene Chirurgen, die einen Muskel ersetzen und die gleiche Funktionsfähigkeit wie vorher erreichen wollen. Reid Abrams von der University of California in San Diego:

    Zu den wichtigsten Merkmalen der Muskelarchitektur gehört der Querschnitt des Muskels, der ist proportional zur Kraft, die ein Muskel entwickeln kann. Ein anderes wichtiges Merkmal ist die Länge der Muskelfasern. Sie bestimmt das Ausmaß der Bewegung.

    Muskelquerschnitt und Faserlänge. Beide Merkmale spiegeln sehr genau die Vorgänge wieder, die in den Muskelzellen beim Zusammenziehen und Erschlaffen eines Muskels ablaufen. Das haben die Studien der amerikanischen Forscher gezeigt. Doch weder der Querschnitt noch die Faserlänge lassen sich mit modernen Untersuchungsmethoden ausreichend bestimmen. Bildgebende Verfahren wie CT oder MRT geben jeweils nur einen Teil des Muskelaufbaus wieder. Molekularbiologische und gentechnische Verfahren versagen hier. Es bleibt nur das Sezierbesteck.

    Wir nehmen Muskeln Verstorbener, die ihre Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt haben. Die Muskeln betten wir in Formalin ein, so dass sie fester werden. Dadurch können wir sie zerlegen ohne sie ganz zu zerstören. Dann schneiden wir mit mikrochirurgischem Werkzeug winzige Faserbündel heraus, messen deren Länge, berechnen die Anzahl der Muskelfasern und vergleichen sie mit anderen. Einfache Anatomie, aber sehr ...

    ...sagt Richard Lieber, einer der Pioniere der Muskelarchitektur-Forschung. Mit diesem Vorgehen arbeitet der Orthopäde aus dem kalifornischen San Diego gar nicht so viel anders als deutsche Anatomen, die Muskelfasern und Querschnitte bereits im 16 und 17 Jahrhundert akribisch aufgezeichnet haben.

    ... Aber die alten Anatomen wussten noch nicht, wie die Muskeln Kräfte ausüben. Sie konnten zwar die Faserorientierung beschreiben, hatten aber die Bedeutung nicht verstanden.

    Der Orthopäde hat Muskel für Muskel nach seiner Architektur charakterisiert, angefangen bei der Hand über den Unterarm bis hin zu Schulterbereich und Rücken. Auf der Grundlage seiner Untersuchungen können die Chirurgen jetzt einfach in einem Atlas blättern, um aus allen in Frage kommenden Armmuskeln den richtigen auszuwählen. Der am besten die Funktion eines verletzten Muskels übernehmen kann.