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Architektur des Expressionismus

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges publizierte Kurt Pinthus eine der bedeutendsten Lyrikanthologien. Der Titel lautete "Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus". Empfunden wurde der Band als Aufschrei einer Dichtergeneration, Anprangerung des Kriegsdesasters und Abgesang auf die wilhelminische Gesellschaft. In seinem Vorwort blickte Pinthus über den Tellerrand der Poesie und bemerkte, daß die bildende Kunst "dieselben Motive und Symptome" zeige, "das gleiche Zersprengen der alten Formen und das Durchlaufen aller formalen Möglichkeiten." Doch Pinthus übersah, daß gerade in der Nachkriegszeit das expressionistische Vokabular ebenso in die Architektur Eingang fand. In seinem Buch "Die Architektur des Expressionismus" hat nun der Kunsthistoriker Wolfgang Pehnt nachgewiesen, daß Pinthus’ Beschreibung expressionistischer Kunst durchaus auch auf die damalige Avantgarde-Architektur übertragbar ist: "Die bildende Kunst hat es möglicherweise in einer Hinsicht einfacher gehabt als die Architektur, sich der Möglichkeiten des Expressionismus zu bedienen", so Wolfgang Pehnt. "Sie konnte von der Deformation des Gegenstandes ausgehen. Und eine Behauptung, die es in der Beschäftigung mit der expressionistischen Architektur gibt, lautet denn auch: ‘Es kann keine expressionistische Architektur geben, weil sie immer zu sehr an die konkreten Daten der Wirklichkeit gebunden ist, weil sie Bauprogramme erfüllen muß, weil sie Kostenrahmen einhalten muß und weil sie ihren Zwecken und Nutzen nachgehen muß.’ Aber ich denke, die Architektur hat auch ihre Chancen gehabt, in diesem expressionistischen Konzert mitzuspielen. Denn es ist auch eine Deformation von Inhalten, wenn sie sich auseinandergesetzt hat mit Erfahrungen, die Architekten zugänglich sind, also Tradition, Bautyp, Gebäudetyp, Konstruktion, Zweck. Und wenn sie versucht hat, diese Dinge rücksichtslos im Sinne einer Ausdruckskunst zu überspielen."

Klaus Englert |
    Wolfgang Pehnt hat mit seinem Buch "Die Architektur des Expressionismus" ein grundsolides Standardwerk geschrieben. Vorgestellt werden nicht allein Berührungspunkte mit anderen künstlerischen Gattungen. Es werden auch die Vorläufer diskutiert, beispielsweise der katalanische Modernismus eines Antoni Gaudí, die Formexperimente der Prager Kubisten und der deutsche Monumentalstil der Jahrhundertwende. Schließlich macht Pehnt an den Architektenporträts deutlich, wie vielfältig der expressionistische Stil ist. Hans Poelzigs Großes Schauspielhaus in Berlin, Max Bergs Jahrhunderthalle in Breslau und besonders Peter Behrens’ Botschaftsgebäude in Sankt Petersburg stehen am ehesten in der wilhelminischen Tradition. An diesen Bauwerken zeigt sich noch die Begeisterung fürs Monumentale. Erst die jüngeren Architekten zeigen deutlicher die typisch expressionistischen Stilmerkmale: das Gotisch-Filigrane, das Organische, das Kristalline. Gerade Bruno Taut und seine Bundesgenossen von der "Gläsernen Kette" erstrebten allen Ernstes die Wiedergeburt der Architektur aus dem Schoße der Natur. "Es war sicherlich eine Kunst, die sehr vieles aufgenommen hat, die sehr vieles amalgamiert hat, Gotik, Barock, auch bestimmte Züge des 19. Jahrhunderts", so Pehnt. "Sie war synästhetisch, sie hat versucht, möglichst viele Sinnesempfindungen zu befriedigen, mit einzubeziehen in ihre Gesamtkunstwerke. Sie hat das Charakteristische aufgesucht und nicht das Harmonische, sie war immer auf skulpturale, bildhauerische Qualitäten auch im Bauen aus, sie hat versucht, die taktilen Werte von Baumaterialien auszureizen, mit Licht und Schatten zu spielen."

    Die expressionistischen Architekten ließen sich von den Experimenten in Lyrik und bildender Kunst beeinflußen. Vor allem von der Dresdner Künstlervereinigung "Die Brücke" und von Herwarth Waldens Zeitschrift "Der Sturm". Erst 1914, einige Jahre nach diesen legendären Gründungen, baute Bruno Taut das Aushängeschild der neuen Architektur: sein berühmtes Glashaus für die Deutsche Werkbund-Ausstellung in Köln. Doch die allgemeine Wende setzte erst ein, als im April 1919 der revolutionär ausgerichtete "Arbeitsrat für Kunst" in Berlin eine Architektur-Ausstellung veranstaltete. Walter Gropius, der in Weimar und Berlin die avantgardistischen Zirkel um sich scharte, ging es vornehmlich um "Idealprojekte". Den vielen arbeitslosen Architekten wollte er die Möglichkeit geben, ihren Phantasien freien Lauf zu lassen. Entsprechend schufen sie imaginäre Formen, keineswegs zweckgebundene Bauwerke. Ausgestellt wurden in dieser Schau beispielsweise Bruno Tauts "alpine Architektur", Hans Scharouns Kristallpaläste, Wassili Luckhardts kosmische Visionen, Hermann Finsterlins Höhlenwohnungen und Wenzel Habliks Luftschlösser. "Es ist sicherlich richtig, daß solche Entwürfe, die auf die Ekstase setzen, eine kürzere Lebensdauer haben als Entwürfe anderer Stilepochen. Das war schon eine hektische Zeit, in der die Kurzlebigkeit selbst angelegt war. Ich finde es auch immer interessant, wenn man sich die Äußerungen der expressionistischen Baukünstler genauer anschaut. Da gibt es eigentlich einen Zwiespalt. Es ist auf der einen Seite eine ganze Menge von existentieller Not und auch existentieller Lust in diesen Entwürfen, aber es ist auch etwas Spielcharakter dabei."

    Vielleicht liegt es gerade an diesem Spielcharakter, daß die tatsächlich realisierten Bauwerke sehr heterogen ausfallen: Hans Poelzigs Großes Schauspielhaus wirkte auf die damaligen Besucher wie eine riesige "Zauberhöhle", Erich Mendelsohns Potsdamer Einsteinturm gleicht einer imposanten Skulptur, Bruno Tauts Kölner Glashaus funkelte wie ein Kristall in einer bunten Märchenwelt, und Walter Gropius’ Weimarer Denkmal der Märzgefallenen weckt Erinnerungen an einen Blitzeinschlag.

    Anders verhält es sich mit dem norddeutschen Expressionismus. Sympathisierten die Architekten um Taut und Gropius mit einem messianischen Kommunismus, so ergingen sich die Expressionisten in Bremen und Hamburg in germanischen Mythologien und Heimattümelei. Moderne Baumaterialien wie Stahlbeton waren ihnen verpönt. Man hielt es eher mit dem traditionellen Backstein, da er angeblich besser zum "deutschen Gemüt" paßt. "Wenn man sich die großen Kontorhausbauten in Hamburg anschaut, vor allem eine damals führende Figur der Hamburger Architektur, Fritz Höger, der das Chilehaus gebaut hat, und wenn man liest, was die Leute geschrieben haben, dann wird einem schon mal angst und bange. Das ist eine richtige Mythologie, in der Atlantis eine Rolle spielt, wo die germanische Kunst besonders zu Hause war. Bernhard Hoetger in Bremen ist eine andere Figur, die zu diesen rechten, nationalisierenden Phantasten gehört hat. Das sind Leute, die ich auch zum Expressionismus zähle, womit man sich natürlich von einem reduzierten, reinen Begriff des Expressionismus verabschiedet, aber die für mich zur Palette der damaligen Architektur gehören."

    Fritz Höger pries sein Chilehaus als "Symbol deutscher Zukunft", während Bernhard Hoetger durch Wiedererrichtung eines altdeutschen Straßenzuges, nach eigenem Bekunden, die "starke Kultur" des "nordischen Menschen" unter Beweis stellen wollte. Beide Architekten schloßen sich später - wen wundert’s - den Nationalsozialisten an. Högers Monumentalstil wurde offenbar von Hitler und Speer toleriert, nur Hoetgers Architektur des deutschen Heimatschutzes paßte alsbald nicht mehr zum offiziell propagierten Ideal.

    Aber nicht nur die norddeutschen Expressionisten wollten sich den Nationalsozialisten andienen. Auch einige Visionäre aus der Zeit der "Gläsernen Kette" träumten noch immer davon, ihre phantastischen Projekte endlich zu verwirklichen: "Ich bin lange Zeit einer Information aufgesessen, die mir Wassili Luckhardt zugespielt hatte. Er schickte mir ein Kristallprojekt, das auf einer Insel sitzt, also eines der lichtdurchfluteten Gebilde, das auch kosmische Dimensionen hat, das ich so um 1920 datiert hätte, wenn ich es als Kunsthistoriker zu datieren gehabt hätte. Und er hatte mich auch im unklaren gelassen und angedeutet, daß dies irgendwie aus dieser Zeit gewesen sein könnte. Das war aber ein ‘Haus der Arbeit’, das er in einem Wettbewerb von 1934 vorgelegt hat, schön abgesichert mit Vergleichen, die von Maria Laach bis Albrecht Dürer gingen, um das als deutsche Kunst schmackhaft zu machen, und wo er gehofft hat, und mit ihm manche andere, daß diese expressionistische Kunst von 1920 vielleicht die Kunst der neuen Zeit, sprich des Dritten Reiches, sein würde."

    Wolfgang Pehnt stellt in seinem Buch nicht die Frage, ob expressionistische Tendenzen auch in der gegenwärtigen Architektur fortleben. Gerade die heutigen Computerberechnungen lassen aber ganz neue, skulpturale, ja sogar waghalsige Gebilde zu, von deren Realisierung die Expressionisten nur träumen konnten. Man denke nur an die einstürzenden Neubauten des kalifornischen Stararchitekten Frank Gehry. Für Pehnt ist er der wahre Erbe der deutschen Expressionisten: "Wenn man sich klar macht, mit welcher Formexuberanz heute bestimmte Architekten arbeiten - Gehry ist ein Beispiel -, dann sind das Dinge, die in der freien Formung eigentlich weit über das hinausgehen, was bei den Expressionisten technisch möglich war, was bei den Expressionisten immer Papier bleiben mußte. Ich glaube, das hängt damit zusammen, daß die Entwurfsstrategien heute ganz andere sein können, vor allem durch die Computerisierung. Gehry ist ein Architekt, der mit Hilfe avancierter Computerprogramme, wie sie in der Luftfahrtindustrie entwickelt worden sind, seine heutigen Bauten realisiert. Das sind also Dinge, die dann in die Architekturrealisierung einfließen, und die Bauten möglich machen, vor denen die wirklichen Expressionisten in ihrer Zeit nur erblaßt wären vor Neid."