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Architektur wie der Körper einer Frau

Der Architekt Oscar Niemeyer ist in Brasilien ein Nationalheld, prägte mit seiner Architektur die Stadt Brasilia. Und für seine futuristisch-eleganten Bauten ließ er sich nach eigener Aussage von den Frauen inspirieren.

Von Günter Uhlig |
    Als die Berliner im Sommer 1957 die Interbau stürmten, konnten sie staunend registrieren, was die Hitlerzeit ihnen vorenthalten hatte: die Architektur der internationalen Moderne. Nicht alles wurde sogleich begriffen und akzeptiert, was da im Hansaviertel zu sehen war, mit am wenigsten die gloriose Plastik, das sechsstöckige Scheibenwohnhaus. Es war aufgeständert, auf eleganten V-Stützen, der Aufzugsturm stand als prismatischer Campanile ein Stück weg, aus Proportionsgründen waren den sechs Geschossen nur zwei Brückenübergänge genehmigt. Einen Brasilianer, einen gewissen Niemeyer, Oscar nannte das Programmheft als Architekten.

    Der notorisch lästerliche Berliner Volksmund ließ sich auch prompt vernehmen: "Im brasilianischen Urwald ist es ja richtig, ein Haus auf Stützen zu stellen, der Ameisen wegen, aber in Berlin??" Das Kollektivgeschoss im sechsten Stock irritierte fast noch mehr. Denn immerhin konnte man sich vorstellen, Fahrräder und Kinderwagen unter dem schwebenden Haus abzustellen, aber das Angebot Kollektivraum, womöglich Versammlungsraum, ganz oben unterm Dach, erregte Verdacht. Sollte der Herr Architekt ein Sozialist, schlimmer noch, ein Kommunist, sein? Richtig, er war Marxist und damals schon, bis zu seinem Austritt 1990 Mitglied der brasilianischen KP. Aber weil Le Corbusier, dessen Mitarbeiter er beim Bau des UN-Hauptquartiers in New York gewesen war, ihn als Architekt für die Interbau empfohlen hatte, blieb Niemeyer zunächst unangreifbar. Doch sein Berliner Bau sollte das einzige Projekt in Deutschland bleiben.

    Sehr spät, fast als eine Wiedergutmachungsgeste, bot man 2007 in Potsdam dem Weltstar Niemeyer die Planung eines Freizeitbades an. Der 96-jährige hat den Entwurf abgeliefert – das Projekt zerschlug sich. Für Niemeyer war das ein zu verschmerzender Verlust, denn mehr 600 Bauten hat er in aller Welt verwirklicht, seine wohl berühmtesten in Brasilia, der neuen Hauptstadt, die er mit dem Städtebauer Lucio Costa am Reißbrett plante. Jeder hat sie schon mal gesehen, die beiden schalenförmigen Großplastiken, die eine konvex, die andere konkav, für Abgeordnetenhaus und Senat. Seit 25 Jahren gehören sie zum Weltkulturerbe. Unvergesslich bleibt dem Besucher auch die Kathedrale Brasilias, ein hyperbolisch geformtes Zelt aus Betonstützen, dessen ikonografische Kraft bis auf das Tempodrom in Berlin sich ausgewirkt hat.

    Sein letztes großes Werk hat der 102-jährige Niemeyer in Ravello an die Meeresküste gestellt, ein riesiges Auge aus weißem Beton, das zukunftsfroh über das Meer hinblickt. Es dient als Auditorium dem weltberühmten Ravello-Festival und ist Hoffnungsträger für die ganze Region. Dass dafür ein ebenso weltberühmter Architekt und Pritzker-Preisträger gewonnen werden musste, versteht sich.

    Niemeyer war in Brasilien ein Nationalheld, daher ist es nicht verwunderlich, dass er wohl als einziger Architekt sein eigenes Museum, das Niemeyer Museum in Curitiba, bauen und mit seinem Gesamtwerk in Modellen und Plänen füllen durfte. Nicht immer war es so glänzend um ihn bestellt. In der Zeit der Militärdiktatur floh er 1966 nach Frankreich. Bevor er Ende der 60er wieder zurück konnte, schuf er im Exil die Zentrale der kommunistischen Partei in Paris und das Verlagshaus Mondadori in Mailand.

    Sein Credo hat er nicht nur gebaut, sondern immer auch in zugespitzten Sätzen verkündet. Sie belegen, wieso die deutschen Kollegen so ihre Schwierigkeiten mit ihm hatten. "Man muss", verriet er, "gegen die funktionalistische Architektur ankämpfen, die sich des armierten Betons bedient, um rechtwinklige und öde Räume zu gestalten."

    Seine fließenden Formen habe er dem Körper der Frau abgeschaut: "Die Architektur besteht aus Traum, Fantasie, Kurven und leeren Räumen."

    "Der Spiegel" resümierte einmal: "Nie wieder wird die Zukunft so gut aussehen wie mit den Bauten des Brasilianers."