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Ardi und ihre Kinder

Das äthiopische Aramis erweist sich mit seinen 4,4 Millionen Jahre alten Gesteinsschichten als unerschöpfliche Fundgrube für Paläontologen. Rund 230 Kilometer nordöstlich von Addis Abeba entfernt haben Forscher um Tim White von der Universität von Berkeley Hunderttausende versteinerte Knochen ausgestorbener Spezies entdeckt.

Von Michael Stang | 18.04.2010
    "Der aufregendste Moment für uns war 1992 bei der Ausgrabung in Aramis. Alamayehu Asfaw, einer der großen Fossilienentdecker in unserem Team, hatte einen Kiefer entdeckt. Wir hatten keinen blassen Schimmer, um was es sich handelt. Zum ersten Mal hatten wir ein Fossil aus der Frühzeit des Menschen, aus der es fast noch keine Erkenntnisse gab. Alamayehu kam zu meinem Kollegen Gen Suwa und mir. Wir betrachteten den Babyzahn in dem Kiefer und schauten uns an, weil wir wussten, was dieser Fund bedeutete. Dieses Fossil war völlig anders und primitiver als alles, was wir von Lucy, von den Funden in Südafrika oder sonst woher kannten. Von diesem Moment an wussten wir, dass wir auf etwas sehr eigenartiges gestoßen waren."

    Das Nationalmuseum von Äthiopien liegt mitten in Addis Abeba. In der hochgelegenen Hauptstadt ist die Luft dünn. Auch wenn es gelegentlich regnet, ist der Staub allgegenwärtig. Am Eingang des alten Betonbaus wird jeder Besucher nach Waffen durchsucht – wie überall in dem ostafrikanischen Land.

    "Ich bin stolz. Viele Menschen kommen hier ins Museum, um die berühmten Skelette zu sehen, die Äthiopien voran bringen. Deshalb sind viele Leute hier sehr stolz auf Lucy oder Ardi."

    Museumsführer Yosef Borga geht durch das Untergeschoss des Museums. Viele Originalfossilien von Frühmenschenfunden aus ganz Äthiopien liegen in alarmgesicherten Vitrinen. Die beiden Nationalschätze – das 3,2 Millionen Jahre alte Teilskelett von Lucy und die 4,4 Millionen Jahre alten Fossilien von Ardi – gibt es nur als Replik zu sehen. Knapp 35 Jahre war Lucy der Star der Szene – als das besterhaltene und älteste Frühmenschenskelett der Welt. Doch im Herbst 2009 erblickte Ardi das Licht der Öffentlichkeit. Ihr Skelett ist noch vollständiger und 1,2 Millionen Jahre älter. Damit gibt sie so tiefe und detaillierte Einblicke in die Frühzeit des Menschen wie nie ein Fossil zuvor. Das Fachmagazin "Science" kürte Ardis Entdeckung und Beschreibung zum wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2009. Borga:

    "Hier ist das Teilskelett von Ardi. Hier sieht man Teile der Zähne, des Schädels… vieles ist zerbrochen. Hier ist die Hand, hier ein Bein, die flachen Füße. Sie war überhaupt eine sehr kleine Lady."

    Mehr als hundert Besucher kommen täglich ins äthiopische Nationalmuseum, um einen Einblick in die Frühzeit des Menschen zu bekommen, fügt Yosef Borga hinzu, sie kommen aus allen Ecken der Erde.

    "Aus Südafrika, Westafrika und Asien, Europa, und so weiter."

    Vor 30 bis 40 Millionen Jahren hob sich im heutigen Äthiopien die Erde und ein riesiger Graben zog sich durch das Land. In seiner Mitte entstand ein Becken, die Afar-Senke. Dort sammelten sich entlang des Flusses Awash in den vergangenen sechs Millionen Jahren immer wieder Sedimente mit den Überresten einzigartiger Pflanzen, Tiere und Menschen.
    "Das einzigartige in Middle Awash ist nicht, dass es so viele verschiedene Frühmenschen gab. Es ist vielmehr der Umfang und die Vollständigkeit an Fossilien, die diesen Platz so besonders machen. Nirgendwo sonst auf der Welt lebten in einem Gebiet so viele Vertreter der menschlichen Evolution."

    Tim White von der Universität von Kalifornien in Berkeley. Durch tektonische Bewegungen wurden die alten geologischen Schichten mehrfach umgebettet. Middle Awash wurde zu einem Mosaik aus Sedimenten unterschiedlicher Zeitalter. White:

    "Dort gibt es keine kontinuierlichen Ablagerungen wie am Meeresgrund. Wir finden dort eher Schnappschüsse aus der Vergangenheit, keinen Videofilm. Aber diese Schnappschüsse geben uns detaillierte Informationen über bestimmte Zeitabschnitte in Middle Awash."

    Alemayehu Asfaw sieht älter aus als er ist. Der 61jährige Mitarbeiter des Nationalmuseums hat ein wettergegerbtes Gesicht und nur noch wenige Zähne. Sein leicht gebückter Gang verrät, dass er sein Leben lang körperlich gearbeitet hat. Seit mehr als 30 Jahren begleitet der Äthiopier in seinem Heimatland wissenschaftliche Ausgrabungen als Helfer, und das sehr erfolgreich. In Fachkreisen genießt der Entdecker einiger Frühmenschenfossilien den Ruf, ein unglaublich gutes Auge für noch so winzige Versteinerungen zu haben.

    "Die besten Erfahrungen habe ich in Middle Awash gemacht und dort habe ich auch die meisten Fossilien von Frühmenschen gefunden."

    Alemayehu Asfaw gibt sich bescheiden, und doch kann er seine Freude über den ersten wichtigen Ardipithecusfund nicht verbergen: der versteinerte Kiefer eines Kleinkindes.

    "Dieser Fund war schon sehr interessant, aber ich wusste ja gar nicht genau, was es überhaupt war. Erst nachdem es als Ardipithecus identifiziert worden war, spürte ich die größte Freude, die ich je im meinem Leben empfunden habe."

    Im hinteren Teil des Äthiopischen Nationalmuseums befinden sich provisorische Forschungsräume. Das Team des Middle Awash Projects hat nach dem Abriss der alten Laborräume ein Drittel der Ausstellungsfläche als Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt bekommen. Dort arbeiten sie nun seit fünf Jahren. Das neue Gebäude steht direkt hinter dem Museum.

    "Hier befindet sich das Hauptarchiv der Paläontologie. Die Sammlungen rekrutieren sich aus ganz Äthiopien. Hier sortieren jetzt die Wissenschaftler die Fossilien in die neuen Schränke, die gerade aus dem alten Gebäude geliefert werden."

    Yonas Beyene führt durch die Räume des neuen Forschungsgebäudes. Es soll eine Art Exzellenzzentrum für die äthiopische Archäologie, Paläontologie und vor allem für die Paläoanthropologie werden, sagt der Vertreter vom Ministerium für Jugend, Sport und Kultur.
    "Das ist der Raum für die Fotoaufnahmen, dahinter befindet sich die Dunkelkammer. Tim White arbeitet hier gerade an einigen der Hominidenfossilien, die er noch nicht photographiert hat."

    Obwohl Äthiopien eines der ärmsten Länder der Welt ist, ist der Regierung die Bedeutung um die Suche nach den ersten Menschen bewusst und brachte rund 2,7 Millionen Euro für den Bau auf. In wenigen Wochen soll alles fertig sein. Dann kann in dem mehrstöckigen Gebäude gelehrt und geforscht werden.

    Im provisorischen Labor liegen die wichtigen Fossilien von Ardi und Co in herkömmlichen Aktenschränken. Lediglich vergitterte Fenster und einige massive Vorhängeschlösser deuten darauf hin, dass sich wertvolle Dinge im Inneren des Raumes befinden. Das berühmte Teilskelett von Lucy fehlt. Die 3,2 Millionen Jahre alten Knochen befinden sich in einer Wanderausstellung in den USA. Die meisten Frühmenschenfossilien hier stammen aus dem Middle Awash, einer Steinwüste, rund 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt. Geht es nach Tim White, befindet sich dort nicht nur die Wiege der Menschheit, sondern gleich auch noch ihre Kinderstube. Mehr als die Hälfte aller bis heute bekannten Frühmenschenarten stammen aus der Afarsenke. Seit knapp 20 Jahren kommt der US-amerikanische Paläoanthropologe regelmäßig nach Äthiopien, um dort im Rahmen des Middle Awash Projects nach den Zeugnissen früher Menschen zu suchen. 1981 wurde das internationale Vorhaben gestartet. Seit seiner Neuauflage 1992 sprudeln dort die Fossilien verschiedener Frühmenschen förmlich aus dem Boden. Aus einem der Aktenschränke holt Tim White eine unscheinbare Plastikkiste. Der Co-Direktor des Middle Awash Projects trägt wie immer seine alte Jeans-Arbeits-Schürze und ein Baseballcap des Forschungszentrums für Humanevolution der Berkeley Universität. Die Kiste stellt er vorsichtig auf einen Tisch.

    "Das hier sind die ältesten Hominidenfossilien aus Äthiopien und gleichzeitig die ältesten bekannten aus der ganzen Welt. Sie gehören zur Art Ardipithecus kadabba. Der vollständigste Fund ist dieser Unterkiefer mit einem arg abgenutzten Backenzahn. Dazu gehören noch einige andere Zähne, die alle von einem Individuum stammen. Es ist nicht sehr viel Material. Alle diese Fossilien sind zwischen 5,7 und 5,8 Millionen Jahre alt."

    Ardipithecus kadabba war so groß wie ein Schimpanse und lebte vor knapp sechs Millionen Jahren in der Afar-Region. Über diese Frühmenschenform ist nicht viel bekannt. Sie war eine der ersten Menschenformen, nachdem sich die Vorfahren von Menschen und Schimpansen getrennt hatten. Der wissenschaftliche Name von Ardis Vorgänger leitet sich aus dem Afar-Wort für "Boden" ab. Wichtigstes Erkennungsmerkmal sind die spitzen Eckzähne, die deutlich menschenähnliche Merkmale aufweisen. Tim White geht zurück zum Fossilienschrank.

    "Ich hole jetzt die Knochen von Ardi. Momentan sind sie nicht anatomisch korrekt angeordnet, sondern separat, also Fußknochen, Stücke der Hand, von Bein und Armen, es ist halt ein Teilskelett."

    Ardis Skelett ist zwar "nur" teilweise erhalten, dennoch ermöglicht es bislang ungeahnte Einblicke in die Frühzeit des Menschen. Die ersten Fossilien des 4,4 Millionen Jahre alten Ardipithecus ramidus haben die Forscher schon 1994 entdeckt, doch die Puzzle-Arbeit, Ardis Skelett zusammenzusetzen, zog sich über viele Jahre. Die ganze Auswertung dauerte anderthalb Jahrzehnte. White:

    "Wir haben dem Teilskelett den Spitznamen Ardi gegeben. Wir wissen anhand der Form und Größe der Eckzähne, dass sie eine junge Frau war. Wir haben auch Eckzähne von anderen Individuen gefunden und Ardi hatte die kleinsten. Sie war knapp 1,20 Meter groß. Sie sieht nicht exakt wie ein Schimpanse aus, auch nicht wie Lucy; sie ähnelt eigentlich niemandem."

    Die Heimat der menschlichen Urahnin Ardi war ein lichter Bergwald, in dem sich zahlreiche Nashörner, Schweine, Elefanten, Antilopen und Stachelschweine tummelten. Vor 4,4 Millionen Jahren war dort es kühl, feucht und grün. Neben Ardi und ihren Artgenossen lebten seinerzeit dort mehr als 6.500 Tier- und Pflanzenarten - eine Vielfalt, die es später nie mehr in Äthiopien geben sollte. Tim White:

    "Das hier sind einige der wichtigsten Knochen von Ardi. Der Kiefer hier ist noch eines der vollständigsten Stücke, obschon er an der Basis auch zerbrochen ist. Man kann gut die spitzen Eckzähne sehen, die in etwa so groß sind wie die von kadabba, obwohl die hier über eine Million Jahre jünger sind. Wir haben also fast das vollständige Gebiss von einem Individuum. Und das ist großartig, weil wir ja auch noch andere Knochen haben, etwa die erste Rippe oder den Hirnschädel. Alle Knochen hier in der kleinen Kiste haben Nummern, die auf die Fundreihenfolge zurückgehen."

    Tim White blickt in die Kiste, in der zahlreiche Röhrchen stehen, in jedem Röhrchen befindet sich ein versteinertes Skelettfragment von Ardi, gut in Watte gepolstert.

    "Ich nehme mal die ganzen Röhrchen hier raus. Hier, das ist wunderbar, das untere Fingerglied: es ist ungefähr anderthalb mal so lang wie meins."

    Mit ihren langen Armen und Händen konnte Ardi gut klettern - und sich im Stehen problemlos am Knie kratzen, ohne sich bücken zu müssen. Lief sie auf allen Vieren, setzte sie die Handflächen und nicht den Handrücken auf, wie Gorillas und Schimpansen es mit ihrem Knöchelgang tun. Sie konnte aber auch schon mit gestrecktem Rücken aufrecht gehen, auf dem Boden und auf Bäumen, die Füße flach auf dem Untergrund. Zwar waren Ardis Oberschenkel etwas nach innen versetzt und sie konnte noch mit ihrem dicken Zeh nach Ästen greifen, was den aufrechten Gang vermutlich etwas wackelig anmuten ließ. Nichtsdestotrotz konnte sie auf zwei Beinen laufen. Damit entstand der aufrechte Gang bereits, als die Frühmenschen noch auf Bäumen lebten. Vor Ardi gingen Forscher davon aus, dass sich das Laufen auf zwei Beinen erst als Reaktion auf eine zunehmende Versteppung der Landschaft entwickelte.


    "Bislang galt die Annahme, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse genauso aussah wie ein heutiger Schimpanse. In einigen Bereichen ist Ardipithecus das auch, etwa was die Hirngröße betrifft. Völlig überraschend war jedoch die Tatsache, dass Ardipithecus unspezialisierte Hände, Füße und Rumpf hatte und eben nicht in der Lage war, sich per Knöchelgang fortzubewegen. Ardipithecus ist nicht weit vom letzten gemeinsamen Vorfahren von Affe und Mensch entfernt und er besitzt keinerlei Spezialisierungen für den Knöchelgang."

    Aus einer kleinen Schachtel hebt Tim White nun einen flachen, dunklen Klumpen. Es sind die Reste des wichtigsten Körperteils: Ardis Schädel.

    "Das alles ist zu einem etwa zehn mal 15 Zentimeter großen Stück zusammengepresst, das ganze ist nur drei oder vier Zentimeter hoch. Als wir den Schädel entdeckten, dachten wir noch, er wäre vollständig. Wir haben ihn und das umgebende Gestein an Ort und Stelle in Gips verpackt und dann im Labor langsam von oben nach unten freigelegt. Wir präparierten Millimeter für Millimeter die Matrix weg, stießen aber nicht auf Knochen; bis fünf Zentimeter vor dem Boden sahen wir nichts. Wir wurden nervös und dachten: Wo ist der Schädel?"

    Zu ihrer Enttäuschung war nicht mehr viel vom Schädel übrig, nur ein Stück verbackenes Knochenmosaik. An eine herkömmliche Präparation unter dem Mikroskop war erst gar nicht zu denken. Tim White hatte Ardis Schädelreste mehrfach mit Kleber fixiert, dennoch blieben die Knochen weich wie Kreide. Schon eine leichte Berührung mit einer Pinzette hätte sie für immer zerstört. Eine nicht invasive Untersuchungsmethode musste her. Ardis Knochen wurden zeitweilig nach Japan zu Gen Suwa überführt. Der ehemalige Student von Tim White hat eine Professur an der Universität von Tokio inne und verfügt in seinem Labor über einen Scanner, der Ardi Schicht für Schicht durchleuchten sollte. Die Prozedur zog sich mehrere Wochen hin.

    "Die Datenbearbeitung hängt immer stark davon ab, was man machen möchte. Meistens kann man mithilfe von Algorithmen die Stücke einzeln separieren, da Knochen, Zahnschmelz oder Dentin alle eine unterschiedliche Dichte haben. Hier war aber das Problem, dass sogar die Röntgenstrahlen einheitlich absorbiert wurden. Also mussten wir per Hand in jedem Bild markieren, was Knochen ist und was nicht. Das war alles sehr zeitintensiv."

    Nach mehreren Monaten war es Suwa und seine Kollegen gelungen, 65 Knochenfragmente des Schädels zu rekonstruieren. Die hohe Auflösung von einem Bild alle 200 Mikrometer machte es möglich, Ardis Schädel detailliert zu untersuchen, ohne ihn zu zerstören. Die digitalen Schädelteile setzte Gen Suwa anschließend als 3D-Puzzle zusammen.

    "Diese digitalen Daten konnten wir dann mithilfe eines 3D-Druckers reproduzieren. Auf diese Weise erhielten wird ein plastisches Modell der digitalen Rekonstruktion."

    Es bedurfte aber zahlreicher Drucke, ehe Gen Suwa und Tim White mit dem dreidimensionalen Kunststoffmodell zufrieden waren. "Ar-10" ist nun der Name des Exemplars, das später der ganzen Welt vorgeführt wurde. Das Originalfossil des Schädels wird immer das komprimierte Fossilienstück bleiben, das es seit 4,4 Millionen Jahren ist.

    Gorillamännchen sind fast doppelt so groß wie die Weibchen. Das liegt an der Form des Zusammenlebens. Ein Alphatier verfügt über den Harem, die kleinen Männchen gehen leer aus. Eine solche Rangfolge gibt es bei Schimpansen nicht. Schimpansenmännchen sind nur unwesentlich größer als die Weibchen und fast jedes Tier kann sich innerhalb einer Gruppe mit einem anderen paaren. Die Männchen von Ardipithecus waren auch nicht viel größer als die Weibchen. Ardis kleiner Schädel und viele kleine Zähne belegen dies. Lange Hauer gab es nicht. Die Eckzähne waren weder zum Kämpfen noch zum Angeben zu gebrauchen. Rivalenkämpfe und Alphamännchen gab es vor 4,4 Millionen Jahren bei Ardipithecus demnach nicht. Die Angleichung der Geschlechter könnte also eine Triebfeder in der menschlichen Evolution gewesen sein; keine Kämpfe, sondern Kooperation.

    Von Ardis linker Hand haben die Forscher in den vergangenen Monaten weitere Fossilien gefunden. Eine derartig vollständige Hand eines Menschenfossils kennt die Wissenschaft erst wieder von Neandertalern. Neben Ardi entdeckte das Middle Awash Team noch weitere Individuen derselben Spezies, insgesamt 35. Tim White:

    "Wir haben Kinder, wir haben Erwachsene, Männer und Frauen, alt und jung, wir haben Biologie. Das ist das Großartige daran. Wir können diese Menschenform nicht nur anhand eines Individuums studieren, sondern sie als Ganzes untersuchen und auch etwa mit den eine Million Jahre jüngeren kindlichen Skeletten der Lucy-Spezies vergleichen."

    Tim White hat die Ardipithecusfosslien weggepackt. Als nächstes holt der US-amerikanische Paläoanthropologe den vermutlichen Nachfahren Ardis aus einer Holzkiste hervor, Versteinerungen von Australopithecus anamensis. Es ist ein 4,2 Millionen Jahre altes Oberkieferfragment, in dem noch einige Zähne stecken.

    "Und man sieht deutlich, dass der Eckzahn ziemlich lang und beeindruckend ist, er ist auch viel größer als der von Ardi. Die Zähne von Australopithecus anamensis hier sind noch ein wenig primitiver als die der späteren Lucy-Spezies. Mittlerweile gehen alle Paläoanthropologen davon aus, dass sich irgendwann vor 4 bis 3,5 Millionen Jahren aus Australopithecus anamensis direkt Australopithecus afarensis entwickelt hat."

    Auf Ardis Gattung Ardipithecus folgte die Gattung Australopithecus. Aus deren erste Art Australopithecus anamensis ging die Lucy-Species Australopithecus afarensis hervor. Sie stehen in direkter Linie im Stammbaum des Menschen. Einen Zeitpunkt, wo die Art anamensis aufhört und die Art afarensis anfängt, kann man nicht ziehen. Auch weisen beide noch nicht typische Eigenschaften heutiger Menschen auf, wie etwa ein vergrößertes Gehirn. Tim White:

    "Es deutet einiges darauf hin, dass sich aus der Lucy-Species später unsere Gattung Homo entwickelt hat. Wir haben keine guten Belege in Form von Fossilien aus dieser Zeit. Wir gehen aber davon aus, dass dies irgendwann vor 3 bis 2,5 Millionen Jahren passiert ist. Denn aus der Zeit um 2,5 Millionen Jahren kennen wir die ersten Steinwerkzeuge, Belege, dass große Tiere geschlachtet wurden und dann gibt es auch die ersten Beweise, dass sich der Stammbaum der Menschheit aufgespaltet hat."

    Vor 2,5 Millionen Jahren teilte sich der menschliche Stammbaum. Erstmals lebten mehrere Frühmenschenarten zu selben Zeit. Neben grazilen Formen entwickelten sich auch robuste Typen. Einige von ihnen trugen Scheitelkämme, die die riesigen Kaumuskeln auf dem Schädel zusammenhielten. Manche hatte so massige Kiefer, dass sie als "Nussknacker" bezeichnet werden.

    Yonas Beyene:

    "Als nächstes haben wir hier den Raum für die Röntgenaufnahmen und Computertomographien. Noch haben wir die Geräte nicht, hoffen aber, dass wir zukünftig auch solche Arbeiten hier durchführen können."

    Im zweiten Stock des neuen Forschungsgebäudes sollen bald die Paläoanthropologen in richtigen Labors arbeiten können und nicht mehr in dem voll gestopften Provisorium forschen müssen. Beyene:

    "Und hier befindet sich der Raum für die Präparatoren, die an den Hominidenfossilien arbeiten. Daneben liegt das Labor für die Forscher, momentan haben wir dafür drei Räume eingerichtet. Alle werden ausschließlich für Hominiden benutzt. Bald kommen hier auch die neuen Tresore rein, die noch unten stehen. Das wird also das neue Zuhause für unsere Hominiden. Die Fenster werden demnächst noch vergittert."

    Der Grund für die vielen Fossilienfunde in den vergangenen Jahren liegt aber nicht in der staatlichen Förderung, sagt Berhane Asfaw, Co-Direktor des Middle Awash Projects.

    "Unsere Arbeit hat sich ein wenig verändert, etwa wie wir ausgraben oder wie wir überhaupt fossilienreiche Gebiete finden. Früher haben wir dazu Luftfotografien benutzt, die waren manchmal 20 oder 30 Jahre alt. Heute benutzen wir aktuelle Satellitenbilder, das macht alles sehr viel einfacher. Zudem muss man bei einem Fossilienfund nicht mehr auf Karten ewig suchen, wo man ist, sondern kartiert alles exakt mit GPS."

    Beeindruckend sei vor allem die zunehmende Expertise der Teammitglieder. Heute sei es viel wahrscheinlicher als früher, weitere spektakuläre Fossilien wie Ardi zu finden. Daher gebe es mittlerweile viele Anfragen von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, die zusammen mit dem Middle Awash Team forschen wollen. Asfaw:

    "Davon profitieren alle. Es ist nicht das Studium der Geschichte der Äthiopier, sondern die großartige Geschichte der ganzen Menschheit untersuchen wir."

    Früher waren Kenia und Tansania die Zentren für Frühmenschenfunde. Aber dort gab es keine Entwicklung in der Infrastruktur und lokale Wissenschaftler wurden nicht ausgebildet. Zudem gab es in diesen Ländern nur Ausgrabungen von ausländischen Forschern, die zum Teil sogar die Fossilien außerhalb des Landes gebracht und nichts zur Entwicklung des Landes beigetragen haben, sagt auch Tim White.

    "In Äthiopien wurden junge Wissenschaftler seit jeher integriert, wie hier in Middle Awash. Dort sehen wir nunmehr die dritte Generation an äthiopischen Wissenschaftlern, die ihre eigenen Projekte haben und neue Ausgrabungsgebiete erforschen. Äthiopien hat sich zu einer Art Vorzeigemodell für ganz Afrika entwickelt. Vor kurzem waren Behane Asfaw und ich in Südafrika eingeladen, um über infrastrukturelle Entwicklungen und Ausbildungsmöglichkeiten für Wissenschaftler zu referieren – in einem hoch entwickeltem Land, das so reich an Fossilien ist; sogar der erste Australopithecus wurde in Südafrika gefunden."

    Aber nicht nur junge äthiopische Forscher sollen eine wichtige Rolle bei zukünftigen Ausgrabungen spielen. Generationen von nationalen und internationalen Wissenschaftlern werden wie in den Jahrzehnten zuvor beim Middle Awash Project das Puzzle der Evolution des Menschen weiter mit Fossilien vervollständigen. Mit dabei wird auch Alemayehu Asfaw sein, der schon in den 1970er Jahren wichtige Hominidenfossilien entdeckte.

    "Nun, ich werde mit dieser Arbeit niemals aufhören, bis mir mein Alter einen Strich durch die Rechnung macht. Bis dahin werde ich weiter mit den Forschern arbeiten. Das ist die beste Art, Wissenschaft zu betreiben und macht mir mein Leben lang Freude."

    Welcher Frühmensch steht in der direkten Ahnenreihe heutiger Menschen? Die robusten Nussknackerformen sind es nicht, dieser Seitenzweig spezialisierte sich zu stark, als dass er noch als Urahn unserer Gattung Homo in Frage käme. Daher bleiben nur wenige Urmenschen im Rennen. Der beste bislang bekannte Kandidat ist der vermutliche Nachfahre der Lucy-Spezies Australopithecus afarensis, sein Name: Australopithecus garhi. Sein Alter: 2,5 Millionen Jahre.

    "Die Frage stellt sich natürlich: Könnte garhi der direkte Homo-Vorfahr sein? Ist es etwas, was es nur im Afar-Dreieck gegeben hat? Oder ist es ein ausgestorbener Seitenast? Wir wissen es nicht. Was das bedeutet? Es bedarf noch weiterer Forschung und wir brauchen viel mehr Fossilien. Das ist der Grund, warum wir jedes Jahr hinausfahren, um weitere Knochen zu finden."

    Noch fehlen einige wichtige Puzzlestücke, um das Bild der Menschwerdung zu komplettieren. Klar ist nur, dass die Nische der ersten menschenartigen Vertreter anfangs noch sehr klein war. Sie lebten ausschließlich in bewaldeten Gebieten und zogen erst in die Savanne, als sie schon aufrecht gehen konnten. Erst viele Zehntausende Generationen später sollten unsere Vorfahren verschiedene Umwelten besiedeln, große Wanderungen zurücklegen und schließlich die ganze Welt erobern.