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Arglos unter dem Atompilz

Zwischen 1960 und 1996 hat Frankreich in Algerien und Polynesien 210 Atombombenversuche durchgeführt. Schätzungsweise 150.000 Menschen waren an den Versuchen beteiligt - oft völlig ungeschützt. Einige der Veteranen, die zwischenzeitlich an Krebs erkrankt sind, haben sich mittlerweile zusammengeschlossen und verklagen den Staat auf Entschädigung. Mit einem ersten Erfolg: Ein Gericht in Tours hat dieser Tage einem Ex-Soldaten, der starker radioaktiver Strahlung ausgesetzt war, eine Invalidenrente zu gesprochen. Aus Paris berichtet Margit Hillmann.

    Drei Männer in Uniform vor einem Warnschild mitten in der algerischen Wüste. - Pierre Leroy, 64 Jahre alt, zeigt Erinnerungsphotos aus seiner Zeit als Soldat in Algerien. 1961, von einen Tag auf den anderen, wird der damals 20-jährige Wehrpflichtige in die algerische Sahara geschickt, nach "In Amguel", französische Militärbasis und Kommandozentrale für unterirdische Atombombenversuche. Welche Art von Einsatz den Wehrpflichtigen dort erwartet, mit welchen Gefahren dies verbunden ist, das erklärt ihm niemand:

    "Man hat uns nur einen Film gezeigt, in dem die fantastischen Möglichkeiten der Atomenergie propagiert wurden, als Energie der Zukunft: beim Bau von Kanälen, beim Wegsprengen von Hindernissen in den Bergen und so weiter. Mit keinem einzigen Wort wurde uns gesagt: Achtung, es kann auch gefährlich werden. Seid vorsichtig."

    1. Mai 1962, 11 Uhr vormittags: Im Inneren eines Berges wird die Atombombe gezündet. Doch gibt die Sprengkammer nach und es entweicht eine radioaktive Wolke. Rund 2500 Soldaten befinden sich zum dem Zeitpunkt auf der nur 30 Kilometer entfernten Basis, ohne jeden Schutz. Schlimmer noch: Patrouillen sind auf dem Terrain unterwegs, nur drei bis vier Kilometer vom so genannten "Null-Punkt" entfernt, an dem die Bombe gezündet wurde. Sie sollen algerische Zivilisten fernhalten. In der Panik hatten die Kommandierenden diese Patrouille vergessen. Die Soldaten warten deswegen Stunden vergeblich auf einen Rückkehrbefehl, ebenfalls völlig ohne Schutz, mitten im verstrahlten Gelände. Sie essen sogar im Freien - unter der radioaktiven Wolke.

    Als die Soldaten zur Basis zurückkehren, sind sie schwer kontaminiert und werden für acht Monate in ein Militärkrankenhaus bei Paris gesteckt.
    Pierre Leroy, der die Explosion von der Basis aus beobachtet, wird zum Ende seines Militärdienstes krank. Sein Blutbild zeigt Anomalien, er fühlt sich müde und geschwächt:

    "Man hat mich von der Basis in ein Krankenhaus nach Algier geschickt. Dort bin ich einen Monat geblieben, bis die Werte wieder normal waren. Aber man hat mir nie gesagt, was ich habe."

    Heute, 45 Jahre später, ist Pierre Leroy Mitglied im Verein der Veteranen der Nuklearwaffenversuche, kurz AVEN. Der Verein zählt rund 3000 Mitglieder: ehemalige Soldaten – wie Pierre Leroy – und Angehörige von Soldaten, die an den Folgen der Verstrahlung gestorben sind. Aber auch Zivilisten, die für das französische Militär auf den Basen gearbeitet oder in der Nähe der Atombombentests gelebt haben.

    Sie alle wollen heute ihre Rechte als Geschädigte einfordern, als Opfer der 210 französischen Nuklearwaffenversuche zwischen 1960 und 1996 in Algerien und Polynesien. Denn, so ergab eine vom Verein in Auftrag gegebene Studie, die Krebsrate unter den Veteranen ist doppelt so hoch wie bei der gleichaltrigen Durchschnittsbevölkerung. Schilddrüsenkrebs, Leukämie, Haut- oder Lungenkrebs - typische Folgen der Verstrahlung attestieren ihnen Wissenschaftler in Gutachten. Der Verein klagt nun auf Schadenersatz in mehren hundert Fällen und wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt. François Tessonière, Rechtsanwalt des Vereins:

    "Das ist keine einfache Sache. Wir legen uns an mit den Mächtigen im Land. Nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit dem mächtigen Verteidigungsministerium und der dort vertretenen Atomlobby."

    Verein und Rechtsanwalt setzen nun auf eine unabhängige Justiz. Die Untersuchungsrichter können das Verteidigungsministerium zwingen, bisher zurückgehaltene Dokumente herauszugeben und wichtige Zeugen befragen. Rechtsanwalt Tessonière:

    "Wir erwarten von den Untersuchungsrichtern, dass sie jene Dokumente besorgen, die genaue Auskunft geben über die Schwere der radioaktiven Kontaminierungen. Wir wissen, dass es sehr genaue Messungen gegeben hat, die man uns bisher verschwiegen hat. Die wenigen Elemente, über die wir verfügen, zeigen schon jetzt, dass das Verstrahlungsrisiko für alle Beteiligten sehr viel größer war, als bisher von Behörden zugegeben. Selbst der damalige Verteidigungsminister unter de Gaulle, Herr Messmer, hat in einem Interview eingeräumt, dass die für die Sicherheit zuständige Behörde große Versäumnisse zu verantworten hat beim Schutz vor allem der Soldaten. Der Minister muss dazu gehört werden und genauere Auskünfte geben."

    Pierre Leroy wurde vor einigen Jahren erfolgreich an der Prostata operiert. Ob der Krebs eine Folge seiner Teilnahme am Atombombentest in der algerischen Sahara war, kann er nicht eindeutig belegen. Genauso wenig wie er weiß, ob er mit weiteren Krankheiten rechnen muss.

    "Man hat immer Angst. Man weiß ja, dass die Verstrahlungen viele Jahre, sogar Jahrzehnte später Krankheiten verursachen. Und man sieht es bei den Veteranen. Man sieht es jeden Tag."