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Umwelt. - Die Versauerung des Ozeanwassers ist eine der größten Bedrohungen für die marinen Ökosysteme. Viele Organismen, gerade solche an der Basis der Nahrungspyramide, können in zunehmend saurem Wasser ihr Kalkskelett nicht mehr ausbilden. Was das bedeutet, wollen Kieler Ozeanographen mit Großexperimenten in der Arktis erforschen.

Von Matthias Günther | 14.05.2010
    Die Meere versauern immer mehr, und das bedroht alle kalkbildenden Lebewesen wie Korallen, Muscheln und Schnecken, aber auch Kalkalgen, erklärt Ulf Riebesell vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, IFM-Geomar.

    "Das hängt damit zusammen, dass der Baustein für Kalkbildner, nämlich Karbonat, durch die Ozean-Versauerung immer weniger wird. Das Karbonat wird aufgezehrt durch die Säure. Und weniger Karbonat heißt dann: die Kalkbildung geht zurück, die Organismen können sich schlechter fortpflanzen und wachsen langsamer."

    Die Folgen dieses Prozesses wollen Kieler Forscher zusammen mit Wissenschaftlern von elf europäischen Instituten in der Arktis untersuchen – in so genannten Mesokosmen, also mittelgroßen Welten. Ulf Riebesell, er ist Professor für Biologische Ozeanographie, spricht von den größten Reagenzgläsern der Welt:

    "Wir wollen einen Wasserkörper, der 17 Meter tief ist, 50.000 Liter Wasser enthält, einschließen. Der ist komplett getrennt vom umgebenden Wasser. Und dann können wir mit diesem Wasser, wo dann die gesamte Planktongemeinschaft drin lebt und lang auch leben kann, da können wir dann gezielte Manipulationen vornehmen. Und was wir manipulieren wollen, ist genau das, was wir in der Zukunft erwarten, nämlich die allmähliche Ozean-Versauerung – in 20, in 30, in 50 Jahren – und schauen, wie reagieren die Organismen und die gesamte Lebensgemeinschaft auf die Versauerung."

    Die Schläuche bestehen aus reißfestem, flexiblem Kunststoff. Sie werden in fast acht Meter hohe Auftriebskörper eingehängt und erst im Wasser entfaltet. Neun dieser vom IFM Geomar entwickelten und weltweit einzigartigen Anlagen werden an Bord des Greenpeace-Schiffes "Esperanza" in die Arktis gebracht – in einen Fjord Spitzbergens. Im Labor haben die Forscher schon Erfahrungen für ihr Freilandexperiment in der Arktis gesammelt. Ulf Riebesell:

    "Genau aus diesem Gebiet, wo wir jetzt die Experimente planen, haben wir schon einmal koralline Rotalgen ins Labor genommen, haben die mit unserem Tauchboot vom Boden abgegriffen, dann im Labor den Bedingungen der Zukunft ausgesetzt, und haben dort festgestellt, dass bei Karbonat-Untersättigung die Algen nicht mehr anfangen, zu wachsen, sobald es darunter geht, fangen sie sogar an, sich aufzulösen."

    Doch diese Erkenntnis reicht den Forschern nicht. Im Großversuch wollen sie herausfinden, was es für eine ganze Lebensgemeinschaft bedeutet, wenn ein Organismus verschwindet. Ulf Riebesell erklärt, dass viele kalkbildenden Organismen die Lebensgrundlage für ganze Öko-Systeme bilden.

    "Eine Gruppe sind die Flügelschnecken, die als Bindeglied zwischen der Basis der Nahrungskette und den Fischen, Seevögeln und Meeressäugern existieren, die auch höchst wahrscheinlich sehr sensitiv auf Ozean-Versauerung reagieren werden. Sollten sie der Ozean-Versauerung zum Opfer fallen, hieße das, das ganze Ökosystem müsste sich völlig neu sortieren."

    Für das Freilandexperiment in der Arktis haben die Kieler Forscher in der Eckernförder Bucht geübt. Dass die Wissenschaftler nicht weiter vor der Haustür in der Ostsee experimentieren, sondern in die Arktis fahren, hat seinen Grund: dort werden viel früher Verhältnisse erwartet, in denen sich Kalkschalen im Wasser auflösen. Riebesell:

    "Aufgrund der niedrigeren Temperaturen löst sich CO2 sehr viel schneller. Das kennen wir aus dem Mineralwasser: wenn wir das in den Kühlschrank stellen, kann sich mehr CO2 lösen, als wenn wir es aufgewärmt haben, dann gast es aus. Das Gleiche passiert auch in den Polarregionen. Das Wasser ist kalt, es löst sich mehr Gas und auch mehr CO2, das heißt der Prozess der Ozean-Versauerung ist dort beschleunigt."

    Die korallinen Algen beispielsweise, die die Forscher im Labor untersucht haben, oder die Flügelschnecken, denen eine Schlüsselrolle zukommt, könnten dadurch schon bald aus der Arktis verschwinden. Ulf Riebesell:

    "Die Bedingungen, die zur Auflösung der Kalkschalen oder der Kalkskelette führen, werden wir in der Arktis in einigen Regionen schon 2016 bekommen im Winter, ganzjährig ab 2045. Das heißt, in den nächsten zehn bis 40 Jahren werden wir Bedingungen haben, wo diese Organismen in der gesamten Arktis nicht mehr vorkommen können."