Arktistagebuch - Sonntag, 15. Juli 2007

Schiffsposition 64°13.750'N, 170°51.480'W. Das Weiße in Peter Lees Augen ist rotgerändert. Er sitzt im Labor, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt und starrt auf einen Computerbildschirm. Ein Stockwerk tiefer bewegt sich Corrine Warren unsicheren Schrittes über das Vorderdeck. Das Gesicht, das aus dem orangefarbenen Overall ragt, ist bleich. Es ist sieben Uhr morgens und die meisten Forscher an Bord der "Sir Wilfrid Laurier" sind seit mehr als 24 Stunden auf den Beinen.

    Am Nachmittag zuvor haben wir eine Region südlich von St Lawrence Island in der Beringsee erreicht, in der besonders viele Pflanzen und Tiere leben. Hier trifft im Sommer nährstoffreiches Wasser aus dem Golf von Anadyr auf den gerade von der winterlichen Eisdecke befreiten, lichtdurchfluteten Ozean. Eine Phytoplanktonblüte ist die Folge und die wiederum lockt jede Menge Tiere in diese Gegend. Dadurch, dass die Beringsee hier sehr flach ist, gelangt das Sonnenlicht bis zum Grund und ein Großteil des Lebens spielt sich am Meeresboden ab. Deshalb untersuchen die Forscher jetzt nicht mehr nur das Ozeanwasser, sondern auch den Schlamm am Grund auf Tiere und Pflanzen.

    Corrine Warren gehört zu einer Gruppe von Meeresbiologen an der Universität von Tennessee in Knoxville, die von dem Forscherehepaar Jackie Grebmeier und Lee Cooper angeführt werden. Sie ist auf ihrem Weg zu einer kleinen Baggerschaufel, die zwei Seemänner gerade mit einem Kran ins Wasser lassen. Es ist das fünfte Mal seit gestern Nachmittag, dass das Schiff stoppt und die Forscher Proben nehmen: um vier Uhr nachmittags, um zehn Uhr abends, dann nachts um drei und nun um sieben Uhr morgens. Auf ein bis zwei Stunden Arbeit folgen etwa anderthalb Stunden Wartezeit, dann ist die nächste Station erreicht – zum Schlafen reicht das kaum.

    Sobald die Baggerschaufel auf dem Grund angekommen ist, schließen sich die beiden Arme und greifen etwa soviel Meeresboden, wie in einen 10- Liter Eimer passt. Eine Winde zieht die Schaufel wieder an Bord und dort angekommen leeren die Biologen ihren Inhalt in ein großes Sieb. Jackie Grebmeier nimmt einen Gartenschlauch und richtet den Wasserstrahl in das Sieb. Langsam löst sich der dunkelgraue Schlamm, sickert durch die Löcher und lässt seine Bewohner zurück. Borstenwürmer, eine große eiförmige Manteltiere, Schlangensterne und zahlreiche Muscheln der Art Nucleana radiata. Letztere sind die bevorzugte Nahrungsquelle der Plüschkopfente, einer in den USA bedrohte Entenart, die bis zu 60 Meter tief taucht, um am Grund nach Nahrung zu suchen.

    Jackie Grebmeier und Lee Cooper fahren seit zehn Jahren jeden Juli mit der "Sir Wilfrid Laurier" durch die Beringsee und zählen die Schlammbewohner. "Wir finden heute deutlich weniger Lebewesen als vor einem Jahrzehnt", meint Cooper. Eine endgültige Erklärung für diesen Rückgang haben die Forscher noch nicht. "Wir vermuten", so Grebmeier, "dass sich die Meeresströmungen in der Beringsee verändert haben. Denn der Schlamm, den wir untersuchen, ist heute an vielen Orten deutlich grobkörniger." Das deute darauf hin, dass das Wasser am Grund schneller fließe und feine Körner fortgewaschen würden. Einige Schlammbewohner brauchen aber gerade den feinkörnigen Schlamm und können sich auf groben Körnern oder Kies nicht halten. Außerdem gelange wesentlich mehr nährstoffarmes Süßwasser aus den Flüssen Alaskas in die Beringsee als früher. Beides macht die Lebensbedingungen im Schlamm unangenehmer.

    Die Plüschkopfenten wiederum verbrauchen auf jedem Tauchgang viel Energie. Je weniger Muscheln sie am Grund finden, desto schlechter können sie diesen Energieverbrauch ausgleichen. Und auch die Wale in der Beringsee zeigen erste Anzeichen von Stress. Sie tauchen in Regionen auf, in denen sie früher nicht vorkamen. Jackie Grebmeier und Lee Cooper vermuten, dass sie auf der Suche nach neuen Futterquellen sind. Gleichzeitig berichten einheimische Jäger von immer weniger Walrössern. Die Beringsee verändert sich.

    Der Kurs der "Sir Wilfrid Laurier" ist hier zu verfolgen.
    Die Bewohner einer Baggerschaufelladung Meeresboden vom Grund der Beringsee.
    Die Bewohner einer Baggerschaufelladung Meeresboden vom Grund der Beringsee. (Monika Seynsche)