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Arm, aber solidarisch

Über die Hälfte der Guatemalteken sind direkte Nachkommen der ursprünglichen Bevölkerung Mittelamerikas. Trotzdem werden die Mayas in Guatemala bis heute benachteiligt. Viele haben keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Schätzungen internationaler Entwicklungsorganisationen zufolge leben mehr als 70 Prozent in absoluter Armut. Sie können den täglichen Kalorienbedarf nicht regelmäßig decken.

Von Andreas Boueke |
    Ein steiler Bergpfad führt hinauf zu einer armseligen Siedlung. Während des Anstiegs muss man sich mit Plastikplanen bedecken, um die feuchten Kleider und die schwitzende Haut vor stürmischem Regen und Tausenden Mücken zu schützen. Das Schicksal der Menschen, die hier leben, ist ein Beispiel für die verheerenden Folgen der Politik der guatemaltekischen Armee während der achtziger Jahre.

    Juana Ixcoy sitzt auf dem blanken Erdboden unter dem Blätterdach ihrer Hütte. Sie sieht aus wie eine alte Frau, ist aber erst Ende vierzig. Sie spricht Quiche, die Sprache der Mayabevölkerung dieser Region.

    "Meine Mutter sagt, es macht sie sehr traurig, wenn sie sich an die Zeit erinnert, als mein Vater verschwand. Außerdem ist es schwer für sie, dass ich, ihre einzige Tochter, damals von zu Hause weggegangen bin. Aber es war nicht anders möglich. Sie konnte uns Kindern nicht genug Kleidung und Nahrung geben. Deshalb muss sie weinen, wenn sie sich an diese Zeit erinnert."

    Juana Ixcoys Tochter María ist in den Bergen Guatemalas zur Welt gekommen. Ihr Vater ist während des Bürgerkriegs in den achtziger Jahren von Soldaten der Armee verschleppt worden und nie wieder aufgetaucht. Deshalb musste María im Alter von zehn Jahren allein in die Hauptstadt ziehen, um Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. In Guatemala-Stadt traf sie auf eine völlig andere Kultur.

    "Meine Welt ist arm, aber solidarisch, kollektiv. Einer hilft dem anderen. In meinem Dorf gibt es diese Haltung nicht: ‚Das ist meins. Das ist Privatbesitz. Hier darfst du nicht langgehen.’ Ich kannte das nicht. Ich kannte die Solidarität, den Respekt für die anderen. In meiner Kultur wird der Respekt für die Älteren sehr hoch geschätzt. Als ich in die Stadt kam, konnte ich diesen Resepkt nicht mehr sehen. Er exisitiert bestimmt auch hier, aber er wird anders gelebt."

    Wie überall in Lateinamerika ist es auch in Guatemala eines der grundlegenden Probleme der Gesellschaft, dass den Angehörigen der indigenen Bevölkerung immer wieder der Zugang zu Bildungschancen verwehrt wird. Santos Oxchoc ist ein Beispiel dafür. Als Kind musste die 22-Jährige ihren Schulbesuch abrechen, um zu arbeiten. Das Einkommen der Eltern, die auf einer Kaffeeplantage arbeiteten, reichte nicht aus, um den Lebensunterhalt der Familie zu decken. Jetzt will Santos ihren Grundschulabschluss nachholen. Doch immer wieder werden ihr Steine in den Weg gelegt:

    "Viele Leute sagen, wir Mayas könnten nicht zur Schule gehen, weil wir nicht richtig Spanisch sprechen oder weil wir zu alt sind. Hier in Guatemala sagen dir nur wenige Leute: ‚Du mußt eine Ausbildung machen.’ Wir werden nicht angespornt, sondern zurückgehalten."

    Gerade unter den Mayafrauen gibt es nur wenige, die diese Grenzen durchbrochen haben. María Ixcoy hat es geschafft. Sie studiert heute an einer katholischen Universität.

    "Traditionell denkende Lehrer in diesem Land glauben, ein Mayakind, das in die Schule kommt, wisse nichts. Es muß belehrt und mit Information angefüllt werden. Eine Beteiligung des Kindes selbst wird nicht angestrebt. Wenn das Kind fragt, wird es aufgefordert, still zu sein. Wenn es viel fragt, wird es bestraft. Der Lehrer weiß alles, das Kind weiß nichts. Ich glaube, das ist der Hauptgrund dafür, dass unsere Gesellschaft so authoritär ist, so gewalttätig. Wir leben in einer Kultur der Gewalt, ohne eine Kultur des Lesens, des Schreibens."

    In Guatemala werden die Nachkommen der spanischen Eroberer und die Mischlinge "Ladinos" genannt. Viele von ihnen leben bis heute in ihrer eigenen Welt, abgeschottet von der restlichen Bevölkerung.

    "Ich bin Pancho. So nennen mich die Leute. Ich bin in der Hauptstadt aufgewachsen. Während meiner Jugend kannte ich keine Menschen aus der Mayabevölkerung. Ich habe mich von der Realität in Guatemala entfremdet, ohne es zu wollen. Hier existiert dieses Vorurteil, dass die Leute der Urbevölkerung unfähig sind, dumm und arm. Sie wissen nicht, wie man richtig Geld verdient, um ein ‚geordnetes Leben’ zu führen. Sie schaffen es nicht, ihre traditionellen Kleider abzulegen. Das ist das Vorurteil.”"

    Wenn sich María Ixcoy mit solchen Vorurteilen konfrontiert sieht, wird sie wütend.

    ""Ich kann das psychologische Problem dieser armseligen Menschen nicht verstehen. Sie haben eine bestimmte Vorstellung von mir, nur weil ich eine traditionelle Tracht trage. Obendrein meinen sie auch noch, wir Mayas müßten von ihnen lernen. Sie glauben ernsthaft, die Tracht sei ein Zeichen dafür, dass wir nicht alleine denken können, dass wir nichts verstehen. Diese Haltung ist schwer erträglich. Ich weiß nicht, ob der Rassismus in diesem Land je zuende gehen wird. In meinem Fall ist es nicht nur der Rassismus. Ich bin eine Frau. Ich bin arm. Ich muß ständig darum kämpfen, dass die Leute mich so respektieren, wie ich bin."

    So wie viele Frauen der Mayabevölkerung trägt auch María Ixcoy einen gewebten Rock und eine Bluse in den traditionellen Farben ihres Geburtsorts. Trotzdem ist sie in Guatemala eine Ausnahmeerscheinung. Sie ist auf dem besten Weg, eine bekannte Menschenrechtsaktivistin zu werden. Ihr Chef, Virgilio Alvares Saragon, Koordinator des Studienprogramms von FLACSO, der lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften, hält große Stücke auf die junge Frau.

    "Sie ist außerordentlich rebellisch, aber auch außerordentlich rücksichtsvoll. Für die Zukunft sehe ich sie in einer Rolle als politische Führerin im Bereich der ethnischen Thematik, als Vertreterin der Mayagruppen. Ich sehe sie nicht als Akademikerin. Ihr Interesse ist eher politisch, aktivistisch. Dabei nimmt sie eine nationale Perspektive ein. Es sind junge Leute wie María, die ein neues Guatemala aufbauen werden, ein Guatemala, das meine Generation nicht konstruieren konnte."

    María Ixcoy hat sich in der Gesellschaft viele Türen geöffnet. Das ist außergewöhnlich für eine junge Mayafrau in Guatemala. Trotzdem aber sucht sie immer wieder den Kontakt zu ihren Wurzeln. Am wohlsten fühlt sie sich in dem armseligen Bergdorf, aus dem sie stammt.

    "Die Kinder hier haben kein Spielzeug, aber sie haben viel Freiheit in ihrem Spiel. Sie sind rastlos, laufen viel herum und niemand sagt ihnen: ‚Klettere da nicht rauf. Komm da runter.’ Sie sind frei. Sie bauen sich ihr eigenes Spielzeug. Ihre Armut können sie noch nicht erkennen. Aber die Armut kann durchaus ihre Entwicklung beeinflussen. Sie können Krankheiten bekommen und daran sterben. Doch meine Nichten und Neffen leben nicht mehr in einer solch extremen Armut wie wir damals. Sie sind froh, denn sie haben genug zu essen und sie haben diese Freiheit. Ich glaube an ihre Zukunft."