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Armer Tölpel

Schriftsteller ist ein schöner Beruf. Man tritt morgens aus dem Haus, gähnt, blinzelt in die Sonne, geht einmal um den Block, und mit etwas Glück liest man auf diesem kleinen Spaziergang die Geschichte auf, die man dann nachmittags zu Papier bringt, als Auftakt zu einem neuen Buch. So war es jedenfalls bei Thomas Rosenboom, dessen historischer Roman "Neue Zeiten" sich um ein Haus dreht.

Ilja Braun | 01.06.2004
    Das Haus gibt es immer noch. Es ist integriert in die Fassade eines Hotels in Amsterdam, gegenüber dem Hauptbahnhof. Wie ein Fremdkörper ist es da stehengeblieben. Das Hotel wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, an einer Stelle, wo lauter alte Häuser standen, die die Hotelgesellschaft erst alle aufkaufen musste, um sie dann abreißen zu können, damit man dort das neue Hotel hochziehen konnte. Und die Hauptfigur aus dem Buch ist Eigentümer eines dieser Häuser, und er wollte den Preis so weit in die Höhe treiben, dass die Hotelgesellschaft sich schließlich dachte: Das bezahlen wir nicht, dann bauen wir eben um ihn herum.
    Rosenboom macht seit Jahren täglich einen Morgenspaziergang, der ihn am Victoria Hotel vorbeiführt. Vom Bahnhofsvorplatz aus, wo heute die Straßenbahnen abfahren, kann man es sehen, und man kann auch die zwei kleinen Fenster erkennen, die offensichtlich älteren Datums sind, aber vollständig in die Fassade des Hotels integriert. Und tatsächlich kommt Rosenbooms Roman sehr nahe an die historische Wirklichkeit heran. Der Hauseigentümer, der seinerzeit versuchte, bei den Verhandlungen mit der Hotelgesellschaft den großen Reibach zu machen, war zwar in Wirklichkeit kein Geigenbauer, sondern ein Schankwirt. Ansonsten aber hat sich die Geschichte tatsächlich genau so abgespielt, wie der Autor sie in dem Roman erzählt. Der Konflikt zwischen dem Hausbesitzer und einer der ersten Aktiengesellschaften, die es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden gab, hat zudem einen gesellschaftlichen Hintergrund.

    In der Zeit fing es an, dass man zum Vergnügen mit dem Zug fuhr. Als es noch keine Züge gab, musste man per Kutsche reisen, und das dauerte entsetzlich lange und war sehr unbequem. Also machten das eigentlich nur Leute, die es mussten: Handelsreisende oder Soldaten. Aber dann entstand eine ganz neue Kategorie von Reisenden: wohlhabende Leute, die es sich leisten konnten, auch ein bisschen mehr Geld auszugeben, und die jetzt tatsächlich zum Vergnügen mit dem Zug reisten. Und wenn die aus dem Bahnhof herauskamen, brauchten sie da ein luxuriöses Hotel, wo sie auch übernachten konnten. Und das ist der Grund, warum in den Niederlanden und ich denke auch in Deutschland gegenüber dem Bahnhof immer feine Hotels gebaut wurden.

    Es ist eine Zeit des Umbruchs: Neue Zeitungen schießen aus dem Boden, Casinos eröffnen, die Börse boomt, und das kleine romantische Grachtenstädtchen Amsterdam entwickelt sich zur modernen Metropole. Die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich von den neuen Entwicklungen nicht überrollen zu lassen, sondern sie möglichst zum eigenen Vorteil auszunutzen, das ist das Gebot der Stunde. Als die Hotelgesellschaft sein Haus abreißen will, hält Vedder sich mit seinem inakzeptablen Kaufpreis für ganz besonders ausgefuchst. Er genießt es geradezu, sich selbst als professionellen Verhandlungspartner mit kühlem Geschäftssinn in Szene zu setzen. Dabei ist er in Wirklichkeit eher ein ahnungsloser Tölpel, der gern mal so richtig abzocken will.

    Doch die neuen Zeiten funktionieren nicht mehr nach den Regeln, die Vedder kennt, und ehe er sich's versieht, steht er mit leeren Händen da. Fast liest sich das wie eine Parabel, etwa auf den Börsenhype der 90er Jahre. Damals hieß es schließlich auch, man könnte im Handumdrehen reich werden. Und am Ende guckten dann doch alle in die Röhre, die allzu gewagt spekuliert hatten. Rosenbooms Buch ist also nicht nur eine allgemein-menschliche Parabel über tragisches Scheitern. Der Roman vermittelt auch ein Bild von der gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchsituation gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und die erinnert durchaus an die Gegenwart. Einerseits ein historischer Roman, andererseits ganz und gar moderne Lektüre. Der künstlich altertümliche Stil tut dem keinen Abbruch. (1'30")

    Ich habe versucht, eine starke Intrige mit einem etwas archaischen Stil zu verbinden. Aber man muss da sehr vorsichtig sein, was etwa altmodische Wörter angeht etc., das kann auch sehr schnell ärgerlich werden. Ich habe natürlich nach einem künstlichen Stil gesucht, der einen gewissen Verfremdungseffekt hat, aber weniger durch die Wortwahl als vielmehr durch den Satzbau. Ich habe versucht, so kompakt wie möglich zu schreiben. Das Schreiben war für mich wie das Ausüben von Druck: So wie man die Luft aus eine Kissen herausdrücken kann, so habe ich versucht, die Luft aus der Prosa herauszudrücken, kleine Füllwörter, Nebensätze, die mit "dass" anfangen: Er erinnerte sich, dass; sie erzählte, dass ... - das wollte ich alles straffer haben. Darauf habe ich eigentlich am meisten Mühe verwendet.

    Obwohl Thomas Rosenboom nun schon drei Romane geschrieben hat, die im 18., im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielen, wäre es ihm am liebsten, wenn man diese Bücher nicht als historische Romane bezeichnen würde. Wenn doch, dann sollte man zumindest genau unterscheiden.
    Ich habe einmal unterschieden zwischen dem altmodischen historischen Roman, also sozusagen dem historischen historischen Roman, der geschrieben wird, um tatsächlich etwas Geschichtliches zu vermitteln, das mache ich schonmal nicht. Dann gibt es auch historische Romane, bei denen der Autor den Leser von einer bestimmten Meinung überzeugen will - wenn zum Beispiel jemand von der Französischen Revolution erzählt, um als Botschaft rüberzubringen: Zusammen können wir die Mächtigen in die Knie zwingen, zusammen sind wir stark. Und das, was ich schreibe, nenne ich jetzt mal den psychologischen historischen Roman, bei dem die Historie eigentlich nur den Hintergrund bildet, die Kulisse, vor der sich die Handlung abspielt.

    Rosenboom will Geschichten erzählen, die an keine besondere historische Konstellation gebunden sind. Er bewundert die Werke eines Dostojewski, wo das individuell Menschliche, das Erleben und Erleiden des Einzelnen im Mittelpunkt steht. Vom Bruch mit dem linearen Erzählen und vom Spiel mit Erwartungshaltungen des Lesers hält er nicht viel. (0'20")

    Das ist nicht die Literatur, die Leser berührt, das ist keine Literatur, bei der man denkt: So ist das menschliche Leben. Ich mag das eigentlich nicht so sehr. Ich interessiere mich mehr für Geschichten, für Literatur, die nicht von Literatur handelt, die nicht mit Konventionen spielt, sondern die einfach vom Leben handelt.

    In seiner Heimat ist Thomas Rosenboom bekannter als Maarten 't Hart und beliebter als Cees Noteboom. Hierzulande ist der Autor in den letzten Jahren ein bisschen in Vergessenheit geraten. Seine Wiederentdeckung ist mit dem Roman Neue Zeiten dringend zu empfehlen.

    Thomas Rosenboom
    Neue Zeiten
    DVA, 520 S., EUR 24,90