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Armut als christliche Mission

Im kalten Winter 1993 richtete Jacques Chirac den Notruf 115 ein. Alle Pariser Bürger sollten diese Nummer wählen, wenn sie irgendwo einen hilfsbedürftigen Menschen in der Kälte sahen. So können die Pariser ihr Mitleid mit den Frierenden äußern, ohne selbst mit ihnen in Kontakt treten zu müssen. Der frühere Franziskanermönch Michel und die ehemalige Krankenschwester Colette sind weiter gegangen: Sie leben freiwillig auf der Straße, um Obdachlosen zu helfen.

Von Günter Liehr |
    Am Boulevard de l’Hôpital, hinter der Gare d’Austerlitz bilden sich ab 19 Uhr Warteschlangen vor dem Suppenwagen. Auch Michel und Colette haben hier, wie schon so oft, gegessen.

    Unter den Leuten vor der Suppenausgabe fallen die beiden aus dem Rahmen. Nicht nur wegen ihres sprachlichen Ausdrucks. Die zierliche Colette trägt einen dunkelblauen Dufflecoat, Michel einen Pullover, saubere Windjacke und soliden Rucksack. Beide sind um die Fünfzig und wirken gepflegt, Michel ist glatt rasiert, sein Haar weißgrau und kurz geschnitten. Ein deutlicher Kontrast zu den schmuddeligen, stoppelbärtigen Gestalten, die geduckt und oft mit schwankendem Gang ihren Essnapf abholen. Dennoch gehören die Beiden schon seit vielen Jahren dazu und teilen das Los der SDF. Allerdings tun sie es freiwillig!

    "Das ist unser Leben: die Existenzweise der Herumirrenden, der Heimatlosen. Wir selbst haben weder Wohnung noch Geldmittel, deshalb gehen wir dorthin, wo man uns das Lebensnotwendige gibt. Gleichzeitig ist das aber eine gute Gelegenheit, die anderen zu treffen."

    Als junger Mann hatte sich Michel dazu entschieden, sein Leben den Armen zu widmen: Er wurde Franziskanermönch. 1983 beschloss er, noch einen Schritt weiter zu gehen und das Klosterleben mit der Straße zu vertauschen.

    Colette war Krankenschwester, engagierte sich dann in der Gefängnisarbeit und der Obdachlosenfürsorge, bis sie vor 12 Jahren Michel traf. Seither sind die beiden ein Paar und leben dieses Leben gemeinsam. Von den Obdachlosen werden sie offensichtlich akzeptiert. Ständig kommen welche vorbei, um sie zu begrüßen.

    Joel, mit schlotternder Jacke, verschmutzter Hose und Alkoholfahne, teilt mit, dass eine Bekannte gerade im Krankenhaus gestorben ist. Ob man sich nachher noch sieht? Ja, man wird wohl im selben Asyl übernachten. Also dann, bis nachher, sagt Colette. Joel trottet davon und sie versucht, den Sinn ihres Engagements zu erklären.

    "Wir haben begriffen, dass in der Welt dieser heruntergekommenen, oft stark geschädigten, desozialisierten Menschen das wichtigste Bedürfnis gar nicht so sehr in Geld und Nahrung besteht – was ihnen vor allem fehlt, sind menschliche Beziehungen. Wir glauben, dass in all den Höllenzonen der menschlichen Existenz, in allen Bereichen, wo die Leute leiden, die Präsenz anderer ein kostbares Geschenk bedeutet. Man ist nicht mehr allein!"

    "Dieser Mann zum Beispiel, den wir gerade gesehen haben, Jacky, hat mir gleich beim ersten Zusammentreffen, ohne mich zu kennen, gesagt: Freundschaft! Freundschaft ist das, was zählt. Das Sprechen fällt ihm nicht leicht, aber das waren die ersten Worte, die herauskamen. Denn ich glaube, er hat in unserem Verhalten sofort dieses Angebot der Freundschaft erkannt, und das ist es, wonach sie am meisten verlangen, denn das sind gedemütigte, abgewiesene Menschen, die in der Hölle der Verachtung leben."

    Neun Uhr abends, der Suppenwagen macht dicht, es wird kühler. Zeit, sich in die Empfangshalle des Bahnhofs zurückzuziehen, wo schon einige stark angetrunkene Obdachlose herumstehen, die aber zu den beiden herübergrüßen…

    Michel und Colette sind übrigens verheiratet. Vom Keuschheitsgebot hat sich der ehemalige Franziskaner also verabschiedet. Dennoch drängt sich die Frage auf, welche Rolle bei all dem ihr Glaube spielt.

    "Das ist die zentrale Frage! Sie hat uns auf den Weg gebracht. Wir sind beide von gewissen Dimensionen des Evangeliums geprägt, vom menschgewordenen Gott, dem Gott der Nähe, dem Gott der Schwachen, und von Jesus’ Vorliebe für die Ausgestoßenen seiner Zeit. Das entspricht dem Aspekt der Brüderlichkeit bei Franz von Assisi. Der wollte allen ein Bruder sein, den Räubern und Wölfen wie den Aussätzigen und Bettlern. Und das ist es, was uns antreibt. Es ist diese Beziehung zu den Armen, in der wir Gott finden."

    Trotz allem hat die Anpassung ans Milieu der Straße ihre Grenzen bei Michel und Colette. Darauf deutet schon ihr gepflegtes Äußeres hin. Und was mögen sie wohl in ihrem Rucksack haben?

    "Ein Minimum an Toilettenartikeln. Unterwäsche zum Wechseln, Socken und so weiter. Und immer ein Buch, denn Lesen ist für uns sehr wichtig. Auch etwas zum Schreiben – Stifte, Papier. Und bei manchen Essensausgaben gibt es ein bisschen mehr, als wir brauchen - Obst , Joghurt, ein Stück Brot – das heben wir dann auf. Und dann haben wir noch ein Regen-Cape. Das Minimum eben."