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Armut im Alter

Viele Experten prognostizieren eine neue Art von Altersarmut in den nächsten Jahren. Fest steht, dass die Renten bis 2030 als Folge der Überalterung sinken werden. Auf der anderen Seite verlangt der Gesetzgeber immer höhere Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen im Krankheitsfall. Nach Ansicht von Experten werden deutlich mehr Menschen als heute in finanzielle Not geraten, wenn sie chronisch krank oder gar zum Pflegefall werden.

Von Michael Engel |
    Vor zwei Jahren erst entstand in Hannover der "Kommunale Senioren-Service". Als dringend überfällig gewordene Antwort auf die neue und dramatisch gestiegene Armut unter alten Menschen. Noch aber handelt es sich um eine "verdeckte Armut", sagt Bernhard Weiland. Sozialarbeiter suchen die Betroffenen in ihren Wohnungen auf, um sie aus ihrer Isolation herauszuholen.

    "Wir haben angefangen mit 20 Krisenfällen im Monat und sind jetzt im letzten Jahr gelandet bei 64 Fällen, und das ist weiterhin steigend. Das sind einfache Menschen, die einfache Arbeiten ausgeführt haben, und von daher auch von ihrer Rente gar nicht an die Grenze der Grundsicherung kommen, also zusätzlich noch Grundsicherung beantragen müssen, also das ist ein relativ breites Spektrum. "

    Bis 2030 wird sich dieses "Spektrum" an Betroffenen nach Ansicht von Prof. Winfried Schmähl, Leiter des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen, deutlich vergrößern. Allein die gesetzlich bereits beschlossenen "Rentenanpassungen" werden nach Berechnungen von Prof. Schmähl ein Minus von 25 Prozent zur Folge haben. Konkret: Ein Standard-Arbeitnehmer mit 45 Beitragsjahren und durchschnittlichen Beiträgen darf dann - statt 1200 Euro wie heute - nur noch 900 Euro Monatsrente erwarten.

    "Für die Zukunft können wir sicherlich davon ausgehen, dass sich die Einkommenssituation im Alter deutlich verändern wird. Zum einen aufgrund von politischen Entscheidungen. Und ein weiterer Grund, der sicherlich wichtig ist, dass in Zukunft die Möglichkeit des Einzelnen, Ansprüche zu erwerben, sei es in einem gesetzlichen System, sei es über betriebliche oder private Vorsorge, dadurch deutlich vermindert wird, dass Personen oft sehr lange Zeit von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Und in dieser Zeit erwerben sie kaum Ansprüche. Oder sie haben keine Möglichkeit, privat vorzusorgen. "

    Welches Ausmaß die Armut unter Seniorinnen und Senioren schon heute hat, konnte eine Studie der AOK Niedersachsen aufdecken. In dem WHO-Projekt "Gesund älter werden" wurden 1300 ältere AOK-Mitglieder zwischen 68 und 79 Jahren telefonisch angesprochen. 584 Haushalte vereinbarten einen Hausbesuch. Jeder fünfte - so die bittere Erfahrung von Projektleiterin Dr. Christiane Perschke-Hartmann - lebt unterhalb der Armutsgrenze.

    "Also wenn Leute mit 300 Euro im Monat auskommen müssen, wenn alles abgezogen ist, was sie an ständigen Ausgaben haben, dann ist das natürlich sehr wenig. Und darunter leidet dann auch die Ernährung, man kann nicht mehr ausgehen oder auch keinen Kaffee trinken, also auch soziale Kontakte leiden darunter. Das drückt sehr stark, und auch die Niedergeschlagenheit. Wir trafen auf Leute, die leben in einer sozialen Deprivation, sind also schon sehr zurückgezogen."

    Entsprechend groß waren auch die gesundheitlichen Informationsdefizite. Aufzuklären - über die Folgen von Bewegungsmangel und falscher Ernährung - war ein zentrales Ziel der AOK-Initiative. Allerdings nicht ganz uneigennützig. Die Krankenkasse möchte herausfinden, ob mit dieser "aufsuchenden Hilfe" am Ende Kosten gespart werden können, indem arme bzw. armutsgefährdete Menschen mehr auf ihre Gesundheit achten. Dass Armut und Krankheit einander bedingen, ist seit langem bekannt: Ärzte werden seltener aufgesucht, wichtige Behandlungen hinausgezögert. Meist treten die negativen Folgen aber erst im Alter auf. Dr. Elke Bruns-Philipps vom Niedersächsischen Landesgesundheitsamt denkt deshalb an frühzeitige Interventionen:

    "Die Strukturen, die wir bislang haben, nämlich die so genannten Geh-Strukturen, also jemand muss selber aktiv werden und sich kümmern, das zeigt sich immer wieder, dass gerade die sozial benachteiligten Gruppen diese Strukturen schlechter in Anspruch nehmen, sich davon auch ein Stück weit nicht angenommen fühlen oder auch überfordert fühlen, dem nachzugehen. Aber wir wissen eben auch, dass u. U. Alkoholkonsum häufiger ist bei sozial benachteiligten Schichten, wir wissen, dass sie im häufigeren Maße rauchen, und das ist eben die Frage, wenn sie mit 65 ansetzen wollen, was können sie noch erreichen. Es ist nicht umsonst, aber sie können deutlich weniger erreichen."

    Das Alter birgt heute aber auch Armutsrisiken für höhere Einkommensschichten, deren Rente für die täglichen Dinge des Lebens anfangs noch ausreicht, solange die Menschen gesund sind. Doch wehe, wenn Krankheiten auftreten. Insbesondere chronische Leiden, Diabetes, Demenz, aber auch Schlaganfall und Herzinfarkt treffen vor allem Seniorinnen und Senioren. Das kommt den Betroffenen mittlerweile teuer zu stehen. Mit immer neuen Zuzahlungsregelungen, Leistungsausgrenzungen und Selbstbeteiligungskatalogen werden kranke Menschen mehr und mehr belastet. Wenn dann noch eine Pflege fällig wird, werden viele Betroffene unter die Armutsgrenze rutschen, so die Prognose von Prof. Ullrich Bauer, Gesundheitssoziologe an der Universität Bielefeld.

    "Wir haben nicht wie bei der Krankenversicherung ein Vollkaskoprinzip, sondern wir haben hier nur ein Teilkaskoprinzip. Teilkasko, also wie wir das auch aus der Autoversicherung kennen, bedeutet ganz einfach, man hat einen pauschalen Satz, den man zahlt, kriegt aber nicht wieder alles heraus. So, als wenn man privat etwas kaufen würde. Ab diesem Moment ist das System anfällig. Ab diesem Moment entstehen Risiken, wenn jemand den anderen Teil, der durch die Teikkaskobedingungen nicht erfüllt wird, einfach nicht abdecken kann. Ab dem Moment haben wir ein besonderes Risiko gerade von Ressourcen schwachen, armen Gruppen."

    Da die Pflegeversicherung schon heute bei weitem nicht ausreicht, um zum Beispiel ein Pflegeheim zu bezahlen, muss immer auch die Rente herhalten. Während Seniorenheime die Pflegekosten Jahr für Jahr erhöhen, hat eine wachsende Zahl alter und pflegebedürftiger Menschen nach Abzug aller Kosten praktisch nichts mehr in der Tasche. Was bleibt, ist das Sozialamt, die Hoffnung auf ein staatliches Almosen. Armut und Alter - das Thema wird sich in den nächsten Jahren dramatisch verschärfen - so das Urteil der Experten.

    "Wenn wir diese Prognosen ernst nehmen, dann haben wir heute mit dieser Bewegung, dass die heute 40 bis 50-Jährigen nachwachsen und dann später den Deckel auf diesem Kessel ausmachen. Wir haben keine Alterspyramide mehr. Wir haben so etwas wie einen Kessel. Unten breit, oben wird es etwas schmaler, und dann sitzt diese Gruppe der dann 2050 80- bis 90-Jährigen oben drauf. Und da ist eine Menge Dampf auf dem Kessel. Und dann werden wir, wenn die Prognosen sich bestätigen, auch den Zenit der Problematik erreicht haben."