Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Armut verringern - aber wie?

Arm zu sein in Deutschland heißt nicht nur, mit sehr viel weniger Geld als die Mehrheit der Bevölkerung auskommen zu müssen. Es bedeutet auch, im gesellschaftlichen Leben abseitszustehen und Demütigung und Entwertung durch Jobcenter und Ämter ertragen zu müssen.

Von Barbara Leitner | 20.01.2011
    Das ist nicht nur im hohen Maße gesundheitsschädlich. Es hilft auch nicht, die Situation zu verändern. Wissenschaftler vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin analysierten verschiedene Aspekte von Armut und wie sie bekämpft werden kann. Sie plädieren vor allem dafür, die Betroffenen nicht über einen Kamm zu scheren und die Ressourcen der Betroffenen in ihrem Umfeld zu stärken.

    Elisabeth: "Ich habe ganz wenig Geld und um über die Runden zu kommen verzichte auf jeden Kleidungskauf. Ich bemerke an mir selber, dass ich mich am Mangel orientiere, ich davon ausgehe oder gar nicht mehr darüber nachdenke über Kino oder Theater. Das kann ich mir einfach nicht leisten.

    Dieses Abseitsstehen, das bemerke ich auch, dieses Nicht-dazu-Gehören zu dem üblichen Urlaubsfahren. Hier und da bin ich mal hilfreich. Das sind sporadische Termine, wo ich einen kleinen Jungen betreue, die auch nicht zur Lebensrhythmusgestaltung geeignet sind, weil mal ist es morgens um 5, mal nachmittags, mal zwei, drei Wochen gar nicht."

    Petra Böhnke von der Schumpeter-Nachwuchsgruppe Soziales Kapital im Lebenslauf am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin:

    "Arbeitslose, sollte man meine, hätten Zeit sich zu engagieren. Aber daran liegt es nicht."

    Die Soziologin untersucht den Zusammenhang von Armut und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

    "Mit Arbeitslosigkeit, das wissen wir seit langen, gehen auch Resignation, Stigmatisierung, Schamgefühl einher, die einem auch davon abhalten, sich für die Allgemeinheit zu engagieren, die einen davon abhalten, sich überhaupt in Vereinsstrukturen zu trauen oder überhaupt den Mut aufzubringen und vor allem die ganzen Aktivitäten, politische Partizipation, freiwilliges Engagement fordern heute auch gewisse Kompetenzen, wie zum Beispiel ein gewisses Selbstbild, gewisses Vertrauen und das ist einfach im besser ausgebildeten Bereich sehr viel stärker vertreten."

    Obwohl Arbeitslose mehr Zeit hätten, engagieren sie sich kaum in Vereinen, politischen Parteien oder Bewegung. Dort sind die besser Gebildeten, mit höherem Einkommen, mehr Macht und Einfluss aktiv. Das zeigte das Volksbegehren zur Schulreform in Hamburg, sieht man bei Stuttgart 21. Arbeitslose sind eher im privaten Rahmen aktiv, helfen Verwandten oder Freunden. In den zurückliegenden Jahren tat die Bundesregierung einiges, um das freiwillige Engagement zu stärken. Bundesweit entstanden 300 Freiwilligenagenturen, um Engagierte zu vermitteln. Doch diese Bemühungen scheinen an einem großen Teil der Bevölkerung vorbei zu gehen. Böhnke:

    "Wir sehen es zu mindestens in den Daten nicht, dass sich etwas an dem Zusammenhang verändert hätte, dass sich Partizipation und Teilhabe nach Bildung, nach Einkommen, nach sozialem Status ganz klar stark hierarchisch gliedert."

    Petra Böhnke nutzt für ihre Forschung repräsentative Daten aus dem sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Das befragt seit 1984 jährlich die gleichen 12 000 Menschen zu ihrem Leben. Dadurch kann die Soziologin Prozesse und Lebensverläufe nachvollziehen, wie sie bisher beispielsweise im Armuts-und Reichtums-Bericht noch nicht erfasst werden.
    "Wenn ich Armut falle, bei den meisten Leuten ist es so, dass sie auch vorher nicht viel mehr Geld hatten. Sie sind in den Einkommensgruppen, die knapp über der Armutsgrenze liegen. Also sie sind auch vorher nicht in den Vereinen. Das ist der springende Punkt. Also wenn man daran etwas ändern möchte, am Partizipationsverhalten der Armen, dann ist es politisch nicht damit getan, das Geld zu erhöhen, die Transferleistungen zu erhöhen. Letztlich kommt es dann sehr darauf an, dass man langfristig schaut in Bildungsinstitutionen, Schule, Familie, dass ein Partizipationsverhalten gestärkt wird. Das hängt eng mit den Bildungskompetenzen zusammen. Aber hängt auch sehr stark mit Sozialisationsmechanismen zusammen, Familie, Freunde, was man vorgelebt bekommt, welche Vorbilder man hat und so weiter."

    Menschen mit wenig Geld kommen im gesellschaftlichen Diskus dieses Landes wenig zu Wort. Sie sind auch benachteiligt, was ihr Wohlergehen angeht. Der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock:

    "Wir haben entlang der gesamten Stufenleiter, von ganz oben nach ganz unten, ein Kontinuum abnehmender Gesundheitschancen."
    Rosenbrock leitet die Forschungsgruppe Public Health am WZB.

    "Das äußert sich an den Extrempunkten in den bekannten Zahlen, dass Männer, die sich im unteren Fünftel nach den zentralen Merkmalen Bildung, Beruf, Einkommen, soziale Stellung zehn Jahre kürzer leben als Männer aus dem oberen Fünftel. Bei Frauen ist das etwas weniger stark. Und dass zusätzlich noch die chronisch degenerativen Erkrankungen, die im letzten Lebensdrittel unvermeidlich sind, bei ihnen vier Jahre früher manifest sind. Dass es insgesamt einen Unterschied in der Lebenserwartung von 14 Jahren gibt."

    Warum reduziert sich für arme Menschen die Lebenszeit so drastisch? Unterschiedliche Zugänge zur Krankenversorgung und deren verschiedene Qualität - so Rolf Rosenbrock - sind in Deutschland relativ unwichtig. Sie erklären nur zehn Prozent der Varianz, anders als beispielsweise in den USA. Auch wenn die Gesundheitsreform daran rüttelt - noch wird bei Ärzten und in Krankenhäuser hierzulande kaum nach sozialer Schicht sortiert. Sind also die Armen mit ihrem Verhalten selbst an ihren körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen schuld?

    Ganz klar: In sozialen Unterschichten ist das Gesundheitsverhalten schlechter, ist riskanter. Es wird mehr geraucht, es wird weniger bewegt. Es wird falsch ernährt. Das stimmt alles. Übrigens nicht in Bezug auf Alkohol, das ist über alle Schichten ziemlich gleich verteilt. Aber es ist so, dass diese Verhaltensunterschiede weniger als die Hälfte der Ungleichheit erklären. Das heißt selbst wenn wir das gesamte Gesundheitsverhalten der sozialen Unterschichten dem der angeblich gesund lebenden Mittelschichten angleichen könnten, hätten wir weniger als die Hälfte der Ungleichheit im Griff. Über die Hälfte ist ein Produkt der Ungleichheit selbst mit all ihren Folgen und auch das Verhalten, was weniger als die Hälfte erklärt, ist ja auch sozial stark gebunden. Der Rest, über die Hälfte, erklärt sich direkt aus der Ungleichheit, aus den Zumutungen, den Beleidigungen, Entwertungen, die aus dem sozialen Status resultieren.

    Durch ihre soziale Lage befinden sich Menschen mit wenig Einkommen oft in einem Strudel nach unten. Der wird genährt durch die Art und Weise, wie sie von anderen behandelt werden und sie mit sich selbst sprechen. Elisabeth:

    "Kleidung. Da habe ich auch schon Äußerungen: Über welche soziale Schiene hast du jetzt diese Turnschuhe gekauft. Wo gab es denn da jetzt Geld, dass Du dir die kaufen konntest, so eine Ironie, die mir begegnet, weil die Leute, mit denen ich Volleyball spiele, da ist keiner betroffen. Ich habe gedacht, ich bin minderwertig, ich bin schlecht. Mir geht es auch heute manchmal so. Das sitzt ganz, ganz tief."

    Diese Entwertungen vor allem sind im hohen Maße gesundheitsschädlich, meint der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock, auch demütigende Prozeduren beim Jobcenter und anderen Ämtern:

    "Unsere Bemühungen um Gesundheitsförderung mit Arbeitslosen oder Arbeitssuchenden läuft nicht nur darauf hinaus, denen durch irgendwelche Kurse mehr Selbstbewusstsein zu verschaffen. Das würde zu kurz greifen. Sondern in die Strukturen und Prozesse der Arbeitsverwaltung einzugreifen, diesen Behörden klar zu machen, dass sie da nicht nur mit Fällen zu tun haben, sondern mit gesundheitlich hochvulnerablen Menschen, wo es auf die Behörde ankommt, ob der gesundheitliche Impact schlimm ist oder weniger schlimm ist."

    Elisabeth: "Ich habe ein Phänomen beobachtet, dass gewisse chronische Schwachstellen gesundheitlich nicht mehr auftauchen, seit ich über einem Jahr ein beruflich qualifiziertes Gegenüber habe, in Form einer Psychologin, die mir genau das bietet, mich so zu akzeptieren, grundsätzlich, wie ich bin und dann gemeinsam herausfinden, wie kann ich mit der Welt mir gemäß dann umgehen."

    Genau das sind die Gesundheitsressourcen, die bei ärmeren Menschen oft fehlen oder schwächer ausgeprägt sind: das Selbstbewusstsein: Ich bin gut. Die Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas bewirken. Die soziale Vernetzung: Ich kenne die richtigen Leute. Die Sinnhaftigkeit: Ich bin in der Lage, meine Umwelt nach meinen Bedürfnissen gestalten. Es genügt deshalb nicht - wie es in der Prävention klassisch geschieht-, über gesundheitsbewusstes Verhalten zu informieren, in der Hoffnung, die Menschen würden es umsetzen und gesünder leben. Rosenbrock:

    "Was wir einerseits brauchen sind Programme, die in die Bearbeitungsstrukturen des Sozialstaates, Ämter, Behörden, deren Briefverkehr und persönlicher Umgang, Schalterverkehr eingreifen, wie andererseits Projekte wie soziale Stadt, dass da, wo die Menschen leben, Aktionsformen finden und entwickeln können, die Selbstbewusstsein herstellen und damit auch die Fähigkeit, Zumutungen von außen anders entgegen zu stellen, also wehrhafter zu werden."

    Gerade Kinder sind auf dieses Ressourcen suchende und aufbauende Herangehen angewiesen. Allein in Europa gelten 20 Prozent der Kinder als arm. UNICEF formuliert 51 Indikatoren, an denen sich das Wohlbefinden der Heranwachsenden misst. Bleiben diese Indikatoren unbeachtet, werden Kinder für ihre Eltern bestraft, meint Heike Solga, Direktorin der WZB-Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie Professorin für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Sie konzipierte die Vortragsreihe über soziale Ausgrenzung und forscht selbst zu Bildungsarmut, vor allem beim Übergang in den Beruf.

    "Wir haben zum Beispiel Interviews mit Förderschülern gemacht und festgestellt, dass die häufig zu spät kamen oder es vergessen hatten. Und dann haben wir uns mit denen genauer unterhalten und haben rausgekriegt, dass das größte Problem war, dass die keinen Kalender geführt haben. Also eine Basispraxis, wo man sagt, wenn ich Termine habe, muss ich die mir halt aufschreiben."

    Das aber erfahren viele Kinder und Jugendliche nicht bei ihren Eltern, wenn die ohne Arbeit sind. Unübersehbar sind die Bildungsfortschritte der vergangenen 60 Jahre - gerade für Frauen. Von den 1940 Geborenen hatten noch zwei Drittel keine berufliche Ausbildung. Heute sind es nur acht Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings, dass diejenigen, die heute keine Ausbildung haben, stärker ausgegrenzt werden als früher. Solga:

    "Jugendliche, die ohne einen Schulabschluss, mit einem Hauptschulabschluss die Schule verlassen, die in so genannten berufsvorbereitenden Maßnahmen in einem Übergangssystem landen, Jugendliche, die an einer Förderschule für Lernbehinderte besuchen, deren Zahlen sich verdoppelt haben, für diese Gruppen ist es viel schwieriger geworden. Es wird eher zu einem individuellen Problem umdefiniert und nicht mehr als ein gesellschaftliches Problem gesehen, dass eben unsere Schulen nicht so sind, auch diesen Schülern mehr Kompetenzen zu geben."

    Rund 15 Prozent der 25-Jährigen bleiben in Deutschland längerfristig ohne abgeschlossene Ausbildung. Diese Zahl hat sich nicht verringert. Heike Solga nennt verschiedene Gründe: Zum einen finden gering Qualifizierte in der Arbeitswelt keinen Platz mehr. Aus dem typischen Beruf für Hauptschüler Kfz-Mechaniker beispielsweise wurde der Mechatroniker, der einen höheren Schulabschluss verlangt. Zum anderen ist die Hauptschule nicht mehr sozial heterogen. Sie ist die Restschule für höchstens 15 Prozent der Schüler geworden. Die lernen ab der fünften Klasse in einem sozial verarmten Schulmilieu. Solga:

    "Nicht nur ihre Eltern sind sozial verarmt oder arbeitslos. Sondern auch die Eltern ihrer Mitschüler. Sodass sie viel weniger Informationen mitkriegen in ihrem Schulalltag, über welche Berufe machen die Eltern, was ist dafür notwendig. Und dann haben wir einen dritten Prozess. Man könnte sagen so etwas wie eine Selbststigmatisierung. Die sind zwar leistungsschwach. Aber die sind nicht doof. Sie wissen seit der fünften Klasse, dass sie kaum eine Chance in der Gesellschaft haben werden, weil sie in ihrer Schule beobachten, dass von denen die abgehen, kaum jemand einen Ausbildungsplatz bekommt. Was bei vielen Hauptschülern auch dazu führt, dass es Rückzugsprozesse aus Leistungskontexten führt. Warum soll man sich anstrengen, wenn man sowieso keine Chance hat."

    Lehrer könnten diesen Kreislauf durchbrechen, in dem sie individuelle Lernfortschritte bewerten und anerkennen, statt Schüler stets zu vergleichen und auf ihre Schwächen festzulegen. Zugleich brauchen viele Schüler Paten, die mit ihnen Dinge tun, die normalerweise Eltern übernehmen. Zum Beispiel zu einem Vorstellungsgespräch zu gehen. Heike Solga evaluierte in Niedersachsen ein Modellprojekt von sogenannten Berufsstarterklassen für Hauptschüler. Diese lernen ab der achten Klasse regelmäßig an Praxistagen in Unternehmen. Fast die Hälfte dieser Schüler bekam anschließend in diesem Unternehmen einen Ausbildungsplatz - trotz schlechtem Zeugnis, sagt Solga:

    "Das zeigt, dass diese Betriebe dann auf einmal wieder den individuellen Jugendlichen sehen. Sie sehen dann nicht den Hauptschüler, der nichts mehr kann, sondern sie haben über die Zeit der Praktikumstage erfahren, dass diese Jugendliche doch etwas kann und es dem lohnt, eine Chance zu geben."

    Dieser Befund kann zugleich wie eine Quintessenz für die WZB-Vortragsreihe sein: Es gibt keine Maßnahme, die allen hilft. Die Gleichbehandlung von Ungleichen führt zu Ungleichheit. Notwendig - auch bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist es, individuell den einzelnen Menschen zu sehen, seine Ressourcen. Das kann auch ein Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft sein.