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Arno Orzessek
Die Vibes der Macht hautnah erleben

Go Public - so heißt die Schülerzeitung des Gymnasiums Othmarschen in Hamburg. Also kurz gesagt: Eine Zeitung, die kaum einer kennt. Wäre da nicht dieses eine Interview; mit einem ehemaligen Schüler des Gymnasiums Othmarschen: Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Sehr lesenswert, besonders zwischen den Zeilen.

Von Arno Orzessek | 21.11.2018
    «Bild»-Digital-Chefredakteur und Vorsitzender der «Bild»-Chefredaktionen, Julian Reichelt, kommt am 07.02.2017 zum Pre-Berlinale-Dinner «Place to B» in Berlin.
    Julian Reichelt, Vorsitzender der BILD-Chefredaktionen (dpa / Jörg Carstensen)
    Seien wir realistisch. Es könnte sein, dass hier einige zuhören, die Julian Reichelt gar nicht so liebhaben. Aber selbst die müssen anerkennen: Das war 'ne dufte Nummer vom Bild-Boss, dass er sich für die Redakteure von Go Public Zeit genommen hat.
    Social Media-Sensibelchen
    Immerhin ist Reichelt einer der eminentesten Journalisten Europas. Und einer der originellsten sowieso. Der Mann, bei dem in puncto Überquellen Brusthaar und Mundwerk konkurrieren, verzichtet zum Beispiel auf vulgäre Tageszeitungen. Er liest nur Bild, basta, erfährt man in Go Public. Auch schnödes Twittern tut er sich nicht mehr an, sondern beschränkt sich aufs retweeten. Und man höre den feingeistigen Grund, den das äußerlich so robust wirkende Social Media-Sensibelchen angibt: Es sei "sehr gut fürs Karma [...], […] sich nicht die ganze Zeit mit diesem Hass zu beschäftigen." Tja!
    Das Geduze zwischen Bild und Sebastian Kurz
    Ob Reichelt mit dem Duz-Kumpel, der ihn während des Go Public-Interviews zufällig anrief, auch über Karma gesprochen hat? Man weiß es nicht. Wohl aber, dass der Sebastian dran war, Nachname: Kurz, Job: Kanzler von Österreich. Die Go Public-Redakteure durften dem Schwätzchen beiwohnen, mitschneiden durften sie es nicht, jedoch erwähnen, dass es stattgefunden hat. Wie brillant ist das denn! Reichelt lässt die jungen Leute die Vibes der Macht hautnah erleben, schützt zugleich seine und Kumpel Kurzens Privatsphäre und lässt die Öffentlichkeit trotzdem wissen, mit wem er sich so duzt. Dass das Geduze auf unlautere Nähe zwischen Bild und Kurz hinweisen könnte, werden Reichelt nur boshafteste Missgönner nachsagen. Aber warum überhaupt? Kurzens autorisierte Biographie hat der Bild-Reporter Paul Ronzheimer geschrieben; und zur Präsentation des Buches reiste die Bild-Chefetage nach Wien. Bitte, da zeigt sich keine unlautere Nähe, da zeigt sich wahre Freundschaft! Bild ist eben von Natur aus supernett.
    Reichelts Ritterkreuzträger-Sound
    Man erinnere sich, wie zärtlich das Blatt ihrem Schmusi Karl Theodor zu Gutenberg einst den Speichel vom Lügenmaul geschleckt hat, als wär's Vanilleeis im Sommer. Loyalität und Vertrauen, darauf steht nun auch Reichelt. Sein "Kriterium für Menschen" sei, "ob man sich vorstellen kann, mit ihnen im Schützengraben zu sein", gab er in Ritterkreuzträger-Sound dem Mitarbeitermagazin von Axel Springer zu verstehen. Spotte niemand, der letzte Weltkrieg sei schon ein Weilchen her. Immerhin lag Reichelt zu Beginn seiner Karriere als Kriegsreporter in Afghanistan, Irak etc. an vorderster Schreibfront, kam jedoch nicht posttraumatisch gestört, sondern gesättigt von Lebensklugheit zurück. Denn merke, nachzulesen in Go Public: "Nichts, was in diesem Büroalltag passieren kann: beschimpft, beschrien, angegriffen werden, kommt in irgendeiner Weise dem nahe, was ich vorher erlebt habe."
    Die tiefe innere Wahrheit der BILD Schlagzeilen
    Leicht erklärlich, dass der Weltweise seine Sicht auch anderen unterjubelt, nach dem Motto: Wann immer dich Bild beschimpft, beschreit und angreift – Raketenbeschuss wäre ungemütlicher! Da müssen selbst verbohrte Kritiker einsehen: Wo Reichelt recht hat, hat er recht! Oder ist Journalismus etwa nicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln? Apropos Krieg. Syrische Flüchtlinge dürfen laut Reichelt gern bei uns Zuflucht zu suchen – "daran halte ich eisenhart fest." Noch härter hält er daran fest, dass alle anderen verduften. Und diese Haltung gerinnt dann zu Schlagzeilen à la "Machen Sie Abschiebung zur Chefsache, Frau Merkel". Deshalb wollten die forschen Go public-Redakteure wissen, ob das nicht Stimmungsmache ist. Nix da, ließ Reichelt wissen: "Ich glaube, alle diese Schlagzeilen haben eine tiefe innere Wahrheit."
    Liebe Leute: Gewissensfrage! Wenn ein Julian Reichelt, dieser Priester des Pressewesens, der die Todeszonen der Welt durchschritten hat, für die tiefe innere Wahrheit der Bild bürgt, warum kauft Ihr dann eigentlich noch andere Postillen?