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Arnold Hottinger: Islamische Welt

Der Publizist Arnold Hottinger hat sich ein Leben lang mit dem Islam befasst. Als junger Mann zog er Mitte der fünfziger Jahre, noch vor der Suez-Krise, in den Libanon. Die Region ließ ihn nicht mehr los. 30 Jahre lang blieb Hottinger als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung im Nahen Osten. Jetzt hat der Arabist und Orientalist in der Rückschau auf ein bewegtes Berufsleben ein umfassendes Werk vorgelegt: Mal ganz persönlich, mal analytisch lässt er seine Begegnungen mit der islamischen Welt zwischen Marokko und Pakistan Revue passieren und ordnet sie in den historischen Kontext ein. So entsteht eine Gesamtschau der Region und ihrer schwierigen Geschichte der vergangenen 100 Jahre. Arnold Hottinger - Islamische Welt.

Von Thilo Kößler |
    Beirut im Frühjahr 1955. Ein junges Ehepaar - er ist Schweizer, sie Amerikanerin - ist im Hafen der libanesischen Hauptstadt eingetroffen und darum bemüht, eine große Blechtruhe mit dem Hab und Gut der Jungvermählten durch den Zoll zu bringen. Der Hafenschuppen ist heiß und überfüllt, und dem jungen Paar wird schnell klar: Die Ankunft in der arabischen Welt ist die Ankunft in einer anderen Welt.

    Wohin nun? Auch der Taxichauffeur schien in furchtbarer Eile zu sein. Einem uralten Baedeker aus der Vorkriegszeit hatte der junge Orientreisende die Information entnommen, direkt am Rande des Hafens befinde sich die "Pension Europe", das älteste Hotel von Beirut "im europäischen Stil". Doch der Taxichauffeur behauptete, er habe noch nie etwas davon vernommen. Dies war verständlich, da ihm der Weg bis zum Rand des Hafengeländes zu kurz war. Doch ein rettendes Schild mit "Pension Europe" wurde sichtbar, sobald das Gefährt die Umrandungsmauer des Hafengeländes hinter sich ließ. - Auszusteigen und dem Chauffeur den kleinen Betrag zu entrichten, den er für den kurzen Weg fordern konnte, war nur eine Frage der Energie.

    Beirut in den Fünfzigern: Die Ladenschilder sind zweisprachig, arabisch und französisch. Der Fez, der rote Filzhut aus der Zeit des Osmanischen Reiches, ist noch präsent. Und durch die Gassen quälen sich amerikanische Straßenkreuzer. Eine Szenerie wie auf einer alten Schwarz-Weiß-Postkarte. Und eine Momentaufnahme vom epochalen Umbruch im Nahen Osten. Die Kolonialzeit ist zu Ende. Der Staat Israel gegründet und als Sieger aus dem ersten Krieg hervorgegangen. Die arabische Welt hat sich aufgemacht in die Unabhängigkeit: Alte Regime werden gestürzt, neue Regime putschen sich an die Macht. Nichts ist mehr, wie es war. Das ist der zeitliche Ausgangspunkt dieses Buches. Und der Schlüssel zum Verständnis der Arabischen Welt.

    Ich glaube schon, das ist eben die genetische Stunde. Da fing es an und da ging schon einiges schief. Es waren eben Ressentiments da gegen die Kolonialisten und die haben sich dann entladen in einem strengen heftigen Nationalismus zum erstmal.

    Arnold Hottinger, Jahrgang 1926. Arabist aus Leidenschaft. Journalist aus Profession. Der ehemalige Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung liest Al Hayat wie unsereins die NZZ. Er ist einer der intimsten Kenner der arabischen und islamischen Welt: Mehr als 40 Jahre lang hat er die Entwicklung dieser Krisen- und Kriegsregion publizistisch begleitet. Hottinger durchmisst sie mal kleinteilig, mal großflächig - chronologisch und geographisch, kulturhistorisch und politisch. Der Islam und seine gesellschaftliche Rolle stehen im Mittelpunkt.

    Hottinger schildert, wie der Islam im aufkommenden Nationalismus zunächst integrativ und identitätsstiftend wirkt. Und wie er später von einer zunehmend gewaltbereiten Minderheit als politisches Kampfinstrument missbraucht wird. Zwischen den Zeilen schreibt Hottinger damit auch ein Stück Terrorgeschichte. Dessen Urgrund sieht er in einem tiefsitzenden Unbehagen - über die Entfremdung von den eigenen kulturellen Wurzeln und über die wachsende Fremdbestimmung.

    Immer mehr Dinge kommen aus dem Ausland, aller Erfolg kommt aus dem Ausland. Aber die Menschen möchten ihre Identität bewahren. Alle Menschen müssen in diesem Zwiespalt leben, aber es gibt nun kleine Randgruppen, die ihn nicht aushalten und die deshalb einen Halt suchen bei einer Ideologie wie dem Islamismus. Das wird dann ein Sprung in den Emotionalismus und in die Irrationalität.

    Israel und die USA sind heute die Symbole der Fremdbestimmung in der arabischen Welt. Gewissermaßen in Fortsetzung der Kolonialmächte, die der Region ihren Willen aufzwängen. Hottinger schreibt:

    Überall dort, wo der Kolonialismus eine zeitlang geherrscht hatte und die neuen Regime aus dem Kampf gegen ihn hervorgegangen waren, war der Islam als der wichtigste Verbündete der Befreiungsbewegungen in Erscheinung getreten. Er war zum Hort der Eigenständigkeit gegenüber den Fremdmodellen geworden, welche die Kolonialisten eingeführt hatten. Islam und Nationalismus wirkten zusammen. Gegensätze zwischen der Religion und der politischen Ideologie des Nationalismus wurden erst nach Erlangung der Unabhängigkeit sichtbar.

    Dann aber heftig - und zunehmend unter dem Blickwinkel des israelisch-arabischen Konflikts. Die Niederlage der Araber im sog. Sechstagekrieg von 1967 wirkte wie ein Schock: Sie entlarvte die militärische Unterlegenheit gegenüber Israel, demaskierte die arabischen Propagandisten als Großmäuler und stürzte die arabischen Führer und ihre Ideologie in eine schwere Legitimations- und Glaubwürdigkeitskrise.

    Da gingen die Leute auf die Straße und sagten: Wenn das der arabische Sozialismus ist, dann will ich keinen arabischen Sozialismus. Im gleichen Moment wurden die Moscheen voll und die Leute suchten dann Halt bei ihrer Religion und die Islamisten benutzten das, um nun ihre Ideologie voranzutreiben: Wir werden durch Erfüllung des Gottesgesetzes das Heil bringen.

    1979 sollte die islamische Revolution in Teheran zum politischen Sprengsatz für die ganze Region werden - Hottinger schildert diesen ersten und einzigen islamistischen Umsturz als direkter Augenzeuge. In Ägypten scheiterte der Putsch im Namen des Islam. Doch Präsident Anwar al Sadat fiel seinen Attentätern zum Opfer. Sie hatten Rache genommen für seinen Verrat an den Arabern, wie sie sagten, und den ägyptischen Friedensschluss mit Israel. Dieser Separatfrieden war nicht nur strategisch kontraproduktiv, schreibt Hottinger in einer beißenden Generalkritik.
    Seit dem Besuch Sadats in Jerusalem, dessen Resultate im offiziellen Frieden von Camp David festgeschrieben wurden, besitzt Israel das strategische und taktische Übergewicht im Nahen Osten, so sehr, dass keiner seiner Nachbarn mehr wagt, Israel auf dem Schlachtfeld herauszufordern. Alle Friedensbemühungen, einschließlich des siebenjährigen "Friedensprozesses" von 1993 bis 2000, sind auf diese Realität aufgelaufen und an ihr gescheitert.

    Die Wunde des palästinensisch-israelischen Konflikts ist noch immer offen - und sie nährt den islamistischen Terror. Am 11. September 2001 stellten die Selbstmordattentäter ihre blinde Gewaltbereitschaft und ihren unbedingten Zerstörungswillen unter Beweis. Was folgte, war die amerikanische Doktrin vom Krieg gegen den Terror. Der Waffengang in Afghanistan. Der Krieg im Irak.

    Man produziert mehr Terrorismus. Das sieht man sehr gut im Irak - jedes Mal wenn die Amerikaner draufschlagen, gibt es noch mehr Ressentiments, noch mehr Leute, die Rache nehmen wollen, noch mehr Leute, die Halt suchen bei dem immer wachsenden Einfluss der Islamisten im Irak, Selbstmordmörder usw. Je mehr man eine Gesellschaft zusammenschlägt, ihr jede Hoffnung nimmt, desto mehr steigert sich der Rekurs zum Letzten, zu diesem Terrorismus.

    Hinzu kommen Demokratiedefizit und autokratische Herrschaftsstrukturen. Reformunfähigkeit und Bildungsnotstand. Die arabische Welt hat den Anschluss an die Moderne verpasst und droht förmlich aus der Zeit zu kippen, falls sie sich nicht fortentwickelt. Hottinger sieht das Überleben der arabischen Kultur in Gefahr, wenn sie nicht initiativ wird, wenn sie nicht aus ihrer Opferrolle herausfindet und nach Lösungen für die Zukunft sucht.

    Die Aufklärung des Islams ist ein Teilaspekt. Aber die Leistung der Versöhnung, des Zusammenspiels, der Einpflanzung, der fruchtbaren Einpflanzung der globalisierten Kultur in die islamische Kultur ist noch zu erbringen.

    Vieles fehlt in Hottingers umfangreichem Werk. Die Folgen der Wende und das Ende der Schaukelpolitik zwischen den Supermächten. Die Rolle Europas im Nahen Osten. Schade, dass auf ein Register ganz verzichtet wurde. Vieles hätte man dafür weglassen können: Daten, Namen, nebensächliche Fakten und Details. Und doch ist dieses Buch ein beeindruckendes journalistisches Vermächtnis. Ein authentisches, mitunter sehr persönliches Erinnerungsbuch. Eine politische Dokumentation. Eine Gegenschrift zu den stereotypen Vorurteilen über die arabische Welt. Und es ist ein posthumer Dank an seine verstorbene Ehefrau und die drei Kinder, die das Los eines unsteten Korrespondentenlebens teilten.

    Arnold Hottinger:
    Islamische Welt. Der Nahe Osten: Erfahrungen, Begegnungen, Analysen.
    Verlag Ferdinand Schöningh, 752 Seiten, 49 Euro 90