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Artenarmut beginnt auf dem Teller

Taras Grescoe ist den Fischen gefolgt - von den Weltmeeren in Spezialitäten-Restaurants und Imbiss-Buden. Der kanadische Autor plädiert für einen sorgsameren Umgang mit den Meeres-Bewohnern, denn sonst seien sie bald von den Speisekarten verschwunden.

Von Britta Fecke |
    Haben Sie sich schon mal gefragt, welcher Fisch unter der Panade klebt oder warum das Filet auf dem Teller des sardischen Fischrestaurants nicht aus dem Mittelmeer kommt, sondern aus der Barentssee? Wollten sie schon immer wissen, warum der Kabeljau inzwischen vier mal teurer ist als noch vor zehn Jahren? Dann heuern sie bei Taras Grescoe an. Er nimmt sie mit über die sieben Weltmeere, fischt im Trüben und in der Tiefe, wirft im Mittelmeer und im Atlantik seine Netze aus:

    Von den 20 Schalen, die wir nach oben gezogen haben, waren zehn leer und flogen zurück ins Wasser. Nur sechs Austern lebten und waren groß genug, sie zu behalten. Hätten wir es auf Quallen abgesehen, wäre die Bilanz positiver ausgefallen: Die Maschen des Netzes hingen voll von durchsichtigem Glibber, und klebrige Fäden trieften herab.
    Warum jetzt Quallen sind, wo vorher Muscheln und Fische waren, dieser Frage ist Grescoe nachgegangen. Er hat sich auf Fisches und Fischers Fährte begeben und den Kabeljau vom Laichgrund bei den Lofoten bis auf den Teller in der Bronx verfolgt.

    Mit Grescoe auf Fang zu gehen ist aufregend und anschaulich zu gleich! Denn bevor er uns die Tragödie von Artensterben, Fangquoten und Überfischung erzählt, stellt er uns die Akteure erst einmal persönlich vor: Denn wer kennt schon den "Mops" der Meere? Die Rascasse:

    Diesen reizenden, stacheligen kleinen Mops von einem Fisch.

    Oder die Charaktereigenschaften eines Kabeljaus:

    Er ist bekannt für seine Gefräßigkeit - ausgewachsene Kabeljaue vertilgen alles, von Styropor über die Bleigewichte der Fischernetze bis hin zum eigenen Nachwuchs.

    Des weiteren wird uns der Seeteufel als "Quasimodo des Atlantiks" und das Seeohr als Delikatesse vorgestellt, und kaum dass wir die Bewohner der Meere so richtig lieb gewonnen haben, müssen wir erfahren, dass es um ihren Bestand und ihren Lebensraum nicht gut bestellt ist, dass die Ozeane immer leerer werden, die Wege immer länger und die Fische immer kleiner.

    Ende des Jahrtausends galten sage und schreibe zwei Drittel der großen europäischen Fischvorkommen als überfischt, einigen Schätzungen zufolge umfassen die Fischbestände nur noch rund fünf Prozent ihres einstigen Niveaus. Obwohl die Fischerei an Intensität zugenommen hat und immer mehr Treibstoff zum Einsatz kommt, um immer weiter hinauszufahren, wird heute weniger Fisch gefangen als je zuvor.
    Die Auslöser für Fischschwund und Fangquote hat Grescoe exemplarisch an einigen Fischarten recherchiert, dafür ist er nicht nur gemeinsam mit Fischern rausgefahren und Forschern getaucht, sondern hat auch die Fischmärkte von New York bis Tokio besucht, er hat dem Backfisch in den britischen Imbissbuden unter die Panade geguckt und den teuersten Sushi-Restaurants in die Kühltruhe.

    Um zu klären, warum wir die wichtigste Nahrungsquelle unserer Erde zerstören, wollte Grescoe ganz vorne anfangen und studierte die Vorlieben der Konsumenten, wie zum Beispiel die britische für Fish and Chips und damit für Kabeljau. Denn Artenarmut beginnt nicht im Meer, sondern auf dem Teller:

    Die Briten konsumieren sage und schreibe ein Drittel der weltweiten Fangerträge von 900.000 Tonnen. Der größte Teil davon endet als Tiefkühlfischstäbchen: Kabeljau wird im Einzelhandel zu 69 Prozent in panierter Form angeboten.

    Was für eine Verschwendung, besonders wenn man bedenkt, dass der früher so häufige Kabeljau mittlerweile zur Rarität geworden ist: In den letzten 15 Jahren ist die Gesamtpopulation des Kabeljaus um 85 Prozent zurückgegangen. Ein Schicksal, das er mit dem Thunfisch und der Flunder teilt. Doch der kanadische Autor liefert nicht nur alarmierende Zahlen, sondern gleich die ganze Nahrungskette. Er schildert die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Fischschwund, Essgewohnheiten und dem nur allzu menschlichen Mechanismus, die Schuld immer wo anders zu suchen: Dennoch erhebt Grescoe dabei nie mahnend den Zeigefinger, sondern erzählt mit Witz und Wissen:

    Viele Fischer glauben, dass die Robben und andere Meeressäuger den ganzen Kabeljau weggefressen haben. Und wenn nicht sie, dann waren es bestimmt die verfluchten Spanier.

    Einige Seiten später erfahren wie dann das, was wir eh schon ahnten:

    Der Kabeljaukollaps wurde nicht durch Robben, globale Erwärmung oder das Ozonloch ausgelöst. Trotz Überwachung sind für den Kollaps einzig und allein die Fischer verantwortlich!

    Nun ist es ja nicht so, dass die nicht reglementiert würden: Fangzeiten und die Maschengröße der Netze sind festgelegt, es gibt Fangquoten und Erholungsprogramme, insgesamt gelten in der EU rund 2000 Vorschriften für den kommerziellen Fischfang. Und dennoch sind die Bestände vieler Meeresfische bedrohter denn je. Auch, weil die Meere immer stärker verschmutzt werden. Durch den Pestizideintrag über die Flüsse ins Meer, die ungeklärten Abwässer der Großstädte sowie die Schwerölrückstände an den Küsten und auf offener See. Und manchmal ist es nur eine eingeschleppte Alge, die der heimischen Fauna den Garaus macht:

    Wo Caulerpa wuchs, gab es keine anderen Pflanzen mehr. Im Gegensatz zu einer Neptungraswiese, wo man eine reichere Lebensvielfalt als in einem tropischen Regenwald vorfindet, war die Caulerpa-Wiese gänzlich frei von jeglicher Fauna.
    Giftiger Algenrasen vor Nizza, leergefischte Küstengewässer vor Kanada und Raubfischer auf der Barentssee - Grescoe führt den Leser zu Tatorten und Schauplätzen auf der ganzen Welt, auf die Kutter und Riesentrawler, auf die Märkte und die offene See. Und nebenbei lernen wir auch noch, dass das Verspeisen von Haifischflossen nicht nur schlecht für die Meeresfauna, sondern auch für die menschliche Gesundheit ist:

    Die Haifischflossen werden zumeist mit Wasserstoffperoxid behandelt, da sie sich gebleicht besser verkaufen lassen, und haben oftmals einen so hohen Quecksilbergehalt, dass man ebenso gut an einem Fieberthermometer knabbern könnte.

    Haifischflossen, Pressfisch und Artensterben: Am Ende ist der Leser schockiert bei bester Unterhaltung. Denn Grescoe hat einen wunderbaren Fischkrimi verfasst, er hat scheußliche Tatsachen so appetitlich angerichtet, dass man bis zum Ende nicht satt wird. Und wenn sie denken, Zuchtlachs und Aquakultur wären die Lösung, dann muss ich sie enttäuschen, denn wussten sie schon dass... ach was, lesen sie selbst. Es lohnt sich!

    Taras Grescoe: "Der letzte Fisch im Netz - Wie wir die wichtigste Nahrungsquelle retten können - die Meere". Blessing Verlag, 560 Seiten, Euro 19,95. ISBN: 978-3896673459