Freitag, 19. April 2024

Archiv

Artikel-7-Verfahren gegen Polen
"Es geht nicht darum, irgendwen an den Pranger zu stellen"

Sie finde es wenig hilfreich, wie sehr Artikel 7 im Europäischen Parlament in Verruf gebracht worden sei, sagte die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Dlf. Es sei Aufgabe der EU sicherzustellen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für alle 500 Millionen Bürger auch tatsächlich gelten. "Die Kommission ist Hüterin der Verträge."

Birgit Sippel im Gespräch mit Stefan Heinlein | 20.12.2017
    SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Europäischen Parlament in Brüssel
    "Artikel sieben will ja im ersten Kern nicht, dass irgendwer bestraft wird", sagte die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Dlf (EU-Parlament / Stephanie Lecocq)
    Stefan Heinlein: Der Streit zwischen Polen und der EU-Kommission gärt schon seit rund zwei Jahren. Es geht um die Justizreform der nationalkonservativen Regierung. Dringend notwendig, um korrupte Richter zu entfernen, so heißt es aus Warschau. Doch viele Kritiker der Regierung in Polen fürchten um die Unabhängigkeit der Justiz. Richter und Staatsanwälte hängen künftig am Gängelband der Regierung, so auch die Sorge in Brüssel. Nun will man nach vielen Drohungen ernst machen und ein Sanktionsverfahren starten, das am Ende sogar zum Entzug der Stimmrechte in der Gemeinschaft führen könnte. Heute wollte EU-Vizekommissionspräsident Timmermans vor die Presse treten, doch es verzögert sich.
    Mitgehört hat die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. Guten Tag, Frau Sippel.
    Birgit Sippel: Schönen guten Tag.
    Heinlein: Frau Sippel, teilen Sie die Einschätzungen unserer Korrespondentin? Erwarten Sie heute, dass die EU-Kommission das Strafverfahren nach Artikel sieben gegen Polen in Gang setzt?
    Sippel: Ich kann mir vorstellen, dass Artikel sieben in Gang gesetzt wird, will aber vor allem betonen, dass ich es wenig hilfreich finde, wie sehr dieser Artikel im Europäischen Parlament insbesondere von Konservativen in Verruf gebracht worden ist. Da ist von einer Atombombe die Rede. Herr Juncker hat jetzt gesagt, wir wollen keinen Krieg gegen Polen. Im Kern geht es doch darum: Wir sagen, die Europäische Union ist eine Werteunion. Und selbst unabhängig von Polen: Wir alle verändern zwischendurch unsere Verfassung.
    Es gibt Veränderungen in der Justiz. Und es kann – noch mal: völlig unabhängig von Polen – immer mal passieren, dass man gerade in besonderen Herausforderungen mit besten Absichten übers Ziel hinausschießt und tatsächlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährdet. Artikel sieben will ja im ersten Kern nicht, dass irgendwer bestraft wird, sondern dass die Mitgliedsstaaten, die Institutionen aufeinander achten und darauf hinweisen: Leute, ihr könntet Gefahr laufen, in eine falsche Richtung zu laufen. Insofern würde ich mich über mehr Gelassenheit in dieser Diskussion sehr freuen.
    "Geben uns alle Mühe, die Diskussion auf Sachebene zu halten"
    Heinlein: Ist der Eindruck, Frau Sippel, denn ganz falsch in Polen, dass die EU jetzt an diesem Staat, an diesem Land ein Exempel statuieren will, eine Art Machtprobe, die man in Brüssel unbedingt gewinnen will?
    Sippel: Ich kann natürlich nicht für die Kommission sprechen. Im Europäischen Parlament haben wir diese Diskussion schon seit längerem und wir geben uns alle Mühe, diese Diskussion wirklich auf einer Sachebene zu halten. Es gibt ergänzend zu Artikel sieben noch mal eine Debatte, um deutlich zu machen, es geht nicht darum, irgendwen an den Pranger zu stellen, zu bestrafen, sondern wirklich darauf zu achten, was neben vielen anderen Dingen Kern der Union ist, nämlich die Werte, auf die wir uns alle gemeinsam in den Verträgen verständigt haben, auch wirklich einzuhalten, umzusetzen, gegenseitig darauf zu achten, dass das eingehalten wird, und das ist ja nicht allein eine nationale Zuständigkeit, wie in Polen oder auch Ungarn gerne gesagt wird. Wenn wir eine europäische Bürgerschaft haben, von der wir immer reden, und Menschen zunehmend mobil werden, sich in verschiedenen Ländern aufhalten, dann sind von solchen Veränderungen immer wir alle betroffen, und es ist unsere Aufgabe sicherzustellen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für alle 500 Millionen EU-Bürger auch tatsächlich gelten.
    Heinlein: Warum weiß denn Brüssel, egal ob EU-Kommission oder Parlament, besser, was an Reformen in jedem einzelnen Land notwendig ist, als die Regierung, als die Politiker, die in dem Land, in dem Fall in Polen leben? Warum weiß man in Brüssel offenbar aus Ihrer Sicht besser Bescheid?
    Sippel: Es geht gar nicht darum, dass man besser Bescheid weiß. Aber wenn eine der Institutionen den Eindruck hat, da läuft etwas schief, und jenseits der europäischen Institutionen, Kommission und Parlament, gibt es ja auch die Venedig-Kommission und viele andere, die warnen, dass da etwas in eine falsche Richtung geht. Aber Ziel ist es ja, dass man miteinander ins Gespräch kommt, und im Falle Polen erleben wir zum Beispiel, dass es bisher einen schriftlichen Austausch über solche Fragen gibt, die polnische Regierung aber bisher nicht zu einem direkten Dialog bereit war. Insofern: Es geht nicht um besser wissen, sondern miteinander reden, auf Probleme hinweisen, deutlich zu machen, warum eine der Institutionen und andere Akteure der Meinung sind, es geht in die falsche Richtung, um dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
    "Kommission tut das, wozu sie gemäß den Verträgen verpflichtet ist"
    Heinlein: Ist Brüssel also eine Art demokratischer Lehrmeister der postsozialistischen Länder?
    Sippel: Nein! Die Europäische Kommission hat die Verpflichtung, entsprechend den Verträgen der Europäischen Union nicht nur auf die Einhaltung der beschlossenen Gesetze zu achten, sondern die Kommission ist Hüterin der Verträge. In den Verträgen haben wir uns auf bestimmte Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, und es ist Aufgabe gerade der Kommission, darauf zu achten, dass diese Werte dann auch entsprechend in der Praxis angewandt werden. Insofern tut die Kommission an der Stelle das, wozu sie verpflichtet ist gemäß den Verträgen.
    Heinlein: Haben Sie Verständnis für manche Polen, die sagen, das ist arrogant von Europa, arrogant von Brüssel, wir Polen wollen diese Reformen der Regierung, weil unsere Richter korrupt sind, sie sind eine elitäre Kaste und unser Justizapparat wurde seit _89 nicht grundlegend reformiert, also höchste Zeit, dass da etwas geschieht?
    Sippel: Wenn es so ist, dass Richter korrupt sind, gibt es dafür verschiedene Möglichkeiten, sie zur Verantwortung zu ziehen. Und natürlich – wir erleben das ja auch in anderen Ländern – kann eine Justiz, ein Justizsystem verändert, reformiert werden. Aber es ist immer die Frage, wie man das macht, und wir haben das ja auch schon am Beispiel Ungarn erlebt, dass sehr deutlich der Eindruck entstand, es geht nicht darum, einfach Richter aus guten Gründen auszutauschen, sondern Richter zu benennen, die der aktuellen Regierung genehm sind. Von daher muss man da mit sehr viel Sensibilität herangehen und man sollte sehr vorsichtig sein, eventuelle strafrechtlich relevante Dinge mit einer allgemeinen Justizreform zu verknüpfen. Wer strafrechtlich sich etwas zu Schulden kommen lässt, der muss natürlich entsprechend behandelt werden. Da muss man nach Wegen suchen. Deshalb das gesamte Justizsystem zu verändern, ist eine andere Frage. Aber noch mal: Genau darüber würden wir mit den Verantwortlichen in Polen gerne in einen direkten Dialog eintreten.
    "Bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, da kann es zu Fehlern kommen"
    Heinlein: Wie hoch schätzen Sie denn die Chancen ein, dass die Regierung am Ende einlenkt und es zu diesem Dialog kommen wird?
    Sippel: Ich würde mich heute nicht trauen, da eine Prozentzahl zu nennen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist. Aber ich glaube, es wäre für uns alle in Europa gut, wenn zumindest der Dialog stattfinden würde, und Voraussetzung ist, dass wirklich alle Seiten aufhören, ständig diese Emotionen hochzupuschen, von Krieg oder einer Atombombe zu reden. Bei Artikel sieben geht es schlicht und ergreifend darum, dass wir miteinander uns gegenseitig dabei unterstützen, das, was Kernelemente der Europäischen Union sind, auch tatsächlich in der Praxis immer wieder abzusichern. Das ist eine komplexe Aufgabe. Bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, da kann es zu Fehlern kommen in allen Mitgliedsstaaten. Insofern da ein wenig die Emotionen runterfahren und wirklich gemeinsam zu gucken, wo hakt es denn und wie kann man das so lösen, dass der Konflikt beigelegt wird, bevor man über eine nächste Stufe, über Sanktionen reden muss.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Mittag die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. Frau Sippel, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und ich wünsche Ihnen schöne Feiertage.
    Sippel: Ihnen auch. Herzlichen Dank! – Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.