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Asyl- und Migrationspakt der EU-Kommission
"Das ist keine Antwort auf das Grundproblem"

Die Pläne der EU-Kommission zur Reform des Asylsystems lösen nach Ansicht des Europa-Experten Josef Janning die bestehenden Probleme nicht. Dazu wären eine länderübergreifende Rechtsbasis und entsprechend legitimierte Institutionen, wie etwa eine EU-Grenzpolizei notwendig, sagte der Politologe im Dlf.

Josef Janning im Gespräch mit Christiane Kaess | 23.09.2020
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos
Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos (imago / ANE Edition)
Seit Jahren streiten die EU-Staaten über eine Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Mit einem neuen Vorschlag will die EU-Kommission Bewegung in seit Jahren blockierten Verhandlungen bringen. Das Konzept, über das die EU-Staaten und das Europaparlament noch verhandeln müssen, sieht schnellere Asylverfahren an den Außengrenzen, mehr Abschiebungen und ein System der abgestuften Solidarität für die Mitgliedsstaaten vor.
Ankunftsländer wie Griechenland und Italien sollen vor allem mit einer starken Unterstützung bei der Rückführung von Menschen ohne Bleiberecht entlastet werden. Länder, die sich bislang weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, wie Ungarn oder Polen, sollen dagegen künftig nur in absoluten Ausnahmefällen zur Aufnahme verpflichtet werden. Die EU-Kommission schlägt dazu eine dreistufiges Verfahren vor, durch das alle EU-Staaten in Krisensituationen ihren Beitrag zur gemeinsamen Migrationspolitik leisten.
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Roth (SPD): Solidarität bei Migration unverhandelbar
Die EU-Kommission will ihre Asyl- und Migrationspolitik reformieren. Das könne ohne eine gemeinsame Verständigung auf Solidarität, Humanität und Verantwortung nicht funktionieren, sagte SPD-Politiker Michael Roth im Dlf.
Für den Politikwissenschaftler Josef Janning, sind die Reformpläne der EU-Kommission lediglich "Reparaturmaßnahmen am bisherigen System". Unbefriedigend sei, dass sich Länder von ihrer Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlinge freikaufen könnten und andere Staaten, wie etwa Deutschland, weiter darauf hoffen müssten, das andere ihrem Vorbild folgen. Die Bundesregierung könnte daran jedoch etwas ändern, indem sie sich innerhalb der EU sehr viel stärker für eine gemeinsame Rechtsbasis in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik und entsprechende gemeinsame Institutionen positioniere.

Lesen Sie hier das vollständige Interview im Wortlaut.
Christiane Kaess: Bei allem, was wir bisher wissen – würde diese Reform tatsächlich entscheidende Veränderungen bringen?
Josef Janning: Na ja, sie hat zumindest das Potenzial, wenn es denn so durchgeht – das ist noch nicht gesagt -, einige der Spannungen zu mildern, nämlich diese europapolitisch ziemlich unerträgliche Situation, dass man zwar mit qualifizierter Mehrheit vor Jahren ein Verfahren verabschiedet hat, das aber nicht umgesetzt wird von den Mitgliedsstaaten. Das heißt, durch diese neue Formel einer abgestuften Solidarität gibt es Verpflichtungen, die man den anderen Staaten gegenüber erfüllen kann, die nicht in der Aufnahme von Flüchtlingen bestehen. Das ist aber natürlich keine Lösung und auch keine Antwort auf das Grundproblem, sondern es ist eine Reparaturmaßnahme am bisherigen System.
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Kaess: Hätte man nicht schon tatsächlich am Beginn anfangen sollen? Hätte man die Zuständigkeit für die Ankommenden nicht auch schon direkt ändern müssen? Wir haben gerade aus Brüssel gehört, da kommen jetzt einfach nur noch EU-Behörden mit ins Spiel.
Janning: Na ja, das ist eine schwierige Frage. Im Grundsatz ist es aus meiner Sicht richtig, dass man die Anträge und die Asylbegehren, die Einwanderungs- oder Zuwanderungsbegehren dort regelt, wo sie entstehen, nämlich an dem Punkt, wo Menschen einreisen. Das schiebt nun mal den Staaten am Rande eine besondere Last zu. Diese Last könnte man gemeinschaftlich schultern, wenn man denn einig darüber wäre, wie man das macht. Und da ist es nicht nur der Unwillen etwa der Länder im Osten der Europäischen Union, die sich einer solchen Einigung verweigern, weil sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, sondern es ist auch der Unwillen von Ländern wie Griechenland und Italien, die besonders betroffen sind, die aber nicht wollen, dass die anderen darüber mitbestimmen können, wie bei ihnen Einwanderungspolitik und Asylpolitik betrieben wird.
"Lager wie Moria muss es in der EU nicht geben"
Kaess: Bleiben wir noch mal kurz bei diesen Ankommenden. Wir hatten ja schon öfter diese Idee der europäischen Asylzentren gehört. Glauben Sie daran, dass das funktionieren kann, dass man tatsächlich vor Ort stärker EU-Behörden mit einbeziehen kann und diese ganzen Verfahren schneller und auch menschenwürdiger zustande kommen?
Janning: Das kann eigentlich nur dann wirklich funktionieren – und die Praxis von Frontex zeigt das im Grunde jeden Tag -, wenn es eine gemeinsame rechtliche Basis gibt, wenn es ein klares Mandat gibt. Im Augenblick ist Frontex immer nur als Hilfsinstrument tätig. Die Hoheit und Entscheidungsbefugnis verbleibt immer bei den jeweiligen nationalen Grenzpolizei-Behörden und es gibt nur ganz eng definierte Fälle offensichtlicher Überforderung an einem bestimmten Punkt zu einer bestimmten Zeit, in denen Frontex selber das Kommando übernehmen kann.
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Finanzielle Solidarität bleibt unbefriedigende Lösung
Kaess: Dann kommen wir mal zu diesem Punkt "abgestufte Solidarität". Wir haben das gehört: Zur Freiwilligkeit kommt dann irgendwann die Pflicht und schlussendlich soll die EU-Kommission Länder auch zwingen können, sich solidarisch zu zeigen. Aber wie denn?
Janning: Sie werden dann verpflichtet sein, einen Finanzbeitrag zu leisten. Und die Frage ist, können sie sich dann aussuchen, in welcher Form sie das tun. Wenn Sie gehört haben, wie Peter Kapern das dargestellt hat, da ist ja noch eine gewisse Diffusität drin. Es kann nicht sein, dass eine solche finanzielle Solidarität dann im Belieben der Mitgliedsstaaten besteht. Das heißt, dass die Ungarn sagen, ja, wenn es darum geht, mehr Geld für Stacheldraht auszugeben, dann sind wir bereit, das zu finanzieren; wenn es aber darum geht, etwa das italienische soziale Sicherungssystem in der Versorgung von überproportional vielen ankommenden Menschen zu unterstützen, dann sind wir nicht dabei.
Kaess: Aber nach den Plänen, soweit wir sie jetzt kennen, könnte man durchaus den Vorwurf erheben, die Staaten, die nicht mitmachen wollen bei der Aufnahme oder bei der Verteilung, die können sich freikaufen?
Janning: Ja, die können sich freikaufen. Das bleibt auch eine unbefriedigende Lösung, wenn das am Ende die Lösung ist, denn eigentlich müssten sie genauso Menschen aufnehmen wie andere Staaten auch. Aber die Praxis hat gezeigt, dass die Staaten sich wehren, dass sie sich weigern, dass sie entsprechende Entscheidungen nicht umsetzen und dass sie deswegen eine politische Blockade dieses ganzen Komplexes herbeiführen. Und wenn man diese Blockade auflösen will, dann muss an irgendeinem Ende ein Kompromiss gemacht werden, und ich habe den Eindruck, dass die Kommission und mit ihr eine Reihe von Mitgliedsstaaten nun an dem Punkt angekommen sind zu sagen: Okay, wenn der Kompromiss bedeutet, dass wir ihnen die Pflicht zur Aufnahme von Menschen abnehmen, dann muss es halt so sein.
"Ich glaube, es war ein Stück Realismus"
Kaess: Und Sie finden, das war richtig von der Kommission, da nachzugeben?
Janning: Ich glaube, es war ein Stück Realismus. Denn das Problem lässt sich durch eine moralisch anständige Haltung nicht lösen, sondern solange diese Union im Wesentlichen auf dem gemeinsamen Handeln der Mitgliedsstaaten basiert, entscheidet sich am Ende das, was getan werden kann, an dem, was man gemeinsam entscheiden und auf den Weg bringen kann.
Kaess: Es bleibt aber dann die Gefahr, dass es ewig so weitergehen wird, dass einzelne Länder, zum Beispiel Deutschland, vorangehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen – in der Hoffnung, andere könnten mitgehen -, aber das trifft dann letztendlich nicht ein.
Janning: So ist es. Diese unbefriedigende Situation bleibt. Deutschland könnte hieran auch noch etwas ändern. Ich glaube, dass der Eindruck in der Bundesregierung längst da ist, dass wir eigentlich eine gemeinsame Politik, eine gemeinsame Rechtsbasis und gemeinsame Institutionen bräuchten. Und Deutschland könnte sich sehr viel stärker, sehr viel öffentlicher und sehr viel klarer in dieser Frage positionieren, über die es bislang unter den Staaten keinen Konsens gibt. Aber wenn man glaubt, dass man am Ende eine stärkere gemeinsame Politik braucht, auf die lange Sicht, dann muss irgendjemand anfangen, dieses machen zu wollen.
"Es wird nirgendwo überschäumende Begeisterung geben"
Kaess: Mit welchen Reaktionen aus den Mitgliedsstaaten rechnen Sie jetzt?
Janning: Ich glaube, dass es nirgendwo überschäumende Begeisterung geben wird, weil dieser Kompromiss zu deutlich Rücksicht nimmt auf Vorbehalte, von denen man eigentlich glaubte, die hätte man überwunden. Ich glaube aber auch, dass das Interesse in Hauptstädten wie Berlin, Paris, aber auch Brüssel oder Rom so groß ist, hier ein Stück voranzukommen, dass es gerade aus diesen Staaten Unterstützung für den Kommissionsvorschlag geben wird. Und man muss dann mal sehen, wie sich die übrigen Staaten einlassen und ob es überhaupt möglich ist, einen solchen Vorschlag auf dem normalen Gesetzgebungswege alleine durchzubringen, oder ob es zuerst noch einmal bis auf die Chefebene des Europäischen Rates gehoben werden muss, um eine Art Grundsatz-Okay herbeizuführen, das dann das Verfahren von Rat und Parlament einleiten wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.