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Atelier unter freiem Himmel

Der Wald von Fontainebleau vor den Toren von Paris war Jahrhunderte lang eine Domäne des französischen Königs. Die einzigen Maler, die man dort antreffen konnte, malten im königlichen Auftrag. Die französischen Freilicht-Maler machten den Wald erst im 19. Jahrhundert zu einem großen Atelier. Heute eröffnet das Pariser Musée d'Orsay eine umfangreiche, nicht nur mit Gemälden und Zeichnungen, sondern auch mit Fotografien und Filmen reich bestückte Ausstellung.

Von Björn Stüben |
    Als Giuseppe Verdis Oper "Don Carlos" 1867 in Paris uraufgeführt wird, ist dem Publikum der Ort, an dem im ersten Akt der spanische Infant Don Carlos seine ihm versprochene Braut, die französische Prinzessin Elisabeth de Valois, zum ersten Mal sieht, sicher bestens vertraut: der knapp 50 Kilometer südlich vor den Toren von Paris gelegene Wald von Fontainebleau. Die dezent eingespielte Opernmusik stimmt jetzt den Besucher des Pariser Musée d'Orsay auf eine umfangreich mit Gemälden, Zeichnungen, Fotografien und Filmausschnitten bestückte Ausstellung ein, die das heute beliebte Naherholungsgebiet der Pariser in seiner historischen Funktion als Freiluftatelier der Künstler unter die Lupe nimmt. Die französische Monarchie legte einst den Grundstein für die Karriere dieses Waldes wie Chantal Georgel, Konservatorin am Musée d'Orsay, erläutert:

    "Der Wald von Fontainebleau war natürlich Jahrhunderte lang eine Domäne des französischen Königs. Die einzigen Maler, die man daher hier antreffen konnte, hatten den königlichen Auftrag, auf ihren Gemälden die Monarchen prachtvoll bei der Jagd in Szene zu setzen. Erst Ende des 18. Jahrhunderts kamen auch einige andere Künstler hierin. Und im 19. Jahrhundert schließlich, als das Gebiet der großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, entdeckten zunächst vor allem die Schriftsteller, dann sehr viele Maler und bald auch Touristen den Wald von Fontainebleau."

    Nach dem Meer sei es der Wald von Fontainebleau, der ihn am meisten beeindruckt habe, denn er strahle fast die gleiche erhabene Größe aus, meint der südfranzösische Dichter Alphonse Daudet 1899.

    Ein halbes Jahrhundert vorher reisen Maler wie Jean-Baptiste-Camille Corot, Charles-François Daubigny oder Théodore Rousseau mit der Eisenbahn aus Paris an und gründen im winzigen Dorf Barbizon am Wald von Fontainebleau eine eigene Malerschule. Der Wald hat sie zur Landschaftsmalerei mit ihrer Palette direkt vor dem Motiv inspiriert. Die Menge an portraitierten Eichen und dramatisch geborstenen Baumstämmen in der Ausstellung legt hiervon Zeugnis ab. Will die Schau lediglich eine Lektion in Naturkunde erteilen?

    "Die Ausstellung zeigt natürlich die Vielfalt der Motive, die die Maler im Wald von Fontainebleau faszinierte. Vor allem aber war der Wald für die Künstler ein echtes Atelier unter freiem Himmel. Somit kamen sie nicht nur, um etwa Bäume abzumalen, sondern um hier zu experimentieren und Entdeckungen zu machen. Als Auftakt zeigen wir in der Ausstellung ein Gemälde von Oudry aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, das ein seltsam geformtes Hirschgeweih minutiös abbildet und sicher als Souvenir für den König gedacht war. Von Oudry spannt sich dann unser Bilderbogen bis hin zu Picasso, der nachweislich 1921 hier gearbeitet hat. Seine große weibliche Liegefigur stellt die mythologische Quelle dar, auf die der Name Fontainebleau, was soviel heißt wie 'Quelle des schönen Wassers‘ zurückgeht. Picasso hat hiermit eine Hommage geschaffen, mit der er sich auf ein Gemälde von Rousseau bezieht, das uns heute nur noch als Stich überliefert ist."

    Die Bedeutung des Waldes von Fontainebleau für die Kunstgeschichte lässt sich somit vor allem an den Namen der Maler ablesen, die hier ihre Motive gesucht haben. Wie nicht anders zu erwarten portraitiert der Realist Gustave Courbet die Natur in düsteren Farbnuancen, verbirgt einen hellen Horizontstreifen hinter dichtem Laubwerk.

    Natürlich wählt sich Jean-François Millet schwer arbeitende Holzfäller als Bildgegenstand. Und was zieht Claude Monet nach Fontainebleau? 1865 fesselt ihn offenbar das gleißende Licht, das nach einem Unwetter auf eine der menschenleeren Hauptachsen des Waldes fällt, ein frühimpressionistisches Meisterwerk. Paul Cézanne haben es die berühmten bizarren Felsbrocken im Wald von Fontainebleau angetan, die sich so gut in seine geometrische Formensprache übersetzen lassen. In einem Stummfilm von 1906, von dem die Schau Ausschnitte zeigt, dienen sie als Kulisse für Christis Kreuzigung auf dem Golgatha-Hügel. Besonders Kurios sind auch die Sequenzen aus einer Stummfilmkommödie von 1912, in der tollpatschige Großwildjäger zusammen mit falschen Eingeborenen vor vermeintlich gefährlichen Bestien durch den (Ur)Wald von Fontainebleau flüchten. Die Ausstellung hätte die Frage stellen können, wie sich die Faszination vieler Künstlergenerationen für den bereits seit 1861 unter Naturschutz stehenden Wald von Fontainebleau erklären ließe. Sie hat es nicht getan. Aber wahrscheinlich hätte es auch soviele unterschiedliche Antworten wie ausgestellte Werke gegeben.